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Politik als Wirklichkeit

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Diesen Sonntag begegnen wir der Politik persönlich. In der Wahlzelle. Mehr noch: Wir begegnen ihr nicht nur. Jeder Wähler ist sogar Politiker. Für das Wohl und Wehe dieses Landes voll verantwortlicher Politiker. Niemals trifft in der Demokratie der Satz besser zu als am Wahltag: Der Staat, das sind w i r.

Die defekte menschliche Art vermag in der dichten Verflechtung von Interessen und sozialen Prozessen, in der wir uns heute befinden, ohne Staat nicht zu bestehen. Lediglich Primitive können sich mit den Faszinationen von Medizinmännern begnügen und in Horden „integrierte“ Neo-primitive etwa mit dem, was ihnen Männer, die den merkwürdigen Namen „Quizmaster“ führen, an Führungshinweisen geben.

Gegenüber dem Staat gibt es keine Alternative. Es sei denn das Chaos, das schließlich ein Despot mittels des Instrumentariums der nackten Gewalt diszipliniert. Der Staat hat seinen Zweck nicht in sich. Er ist auch nicht da, um Bürokraten Einkommen und Lebensraum zu bieten. Zweck de* Staates ist das Gemeinwohl, sein Sicherung und seine Steigerung. Weil auf die Realisierung des allgemeinen Wohles hin angelegt, bedarf der Staat einer Selbstverwaltung, einer Koordination der unterschiedlichen Interessen. Die Selbstverwaltung einer staatlichen Gemeinschaft aber kann sich nur über die Politik vollziehen.

Auch gegenüber der Politik gibt es keine Alternative. Wer im Staat eine Wirklichkeit erkennt, der man sich deshalb nicht entziehen kann, muß auch die Politik als Realität sehen.

Wer die Politik ablehnt, disqualifiziert den Staat als ein juristisches Normengerüst, das nur einem „Hof“, einer Elite dienstbar zu sein hat.

Je mehr wir aber mit Nachdruck nach dem Staat verlangen und lautstark protestieren, wenn er sich nicht, sei es in Sachen von Bombenschäden oder der Deckung persönlicher Haushaltdefizite, als Mäzen zeigt, um so mehr verlangen wir nach der Politik — zumindest indirekt. Die Zeit der politischen Säulenheiligen ist vorbei. Es gibt keinen toten, den Einflüssen der Politik entzogenen Winkel innerhalb der Grenzen des staatlichen Bereiches. Man kann wohl die Politik ablehnen, ihren Wirkungen kann man sich nicht entziehen.

Wer nun Staat und Politik als gegeben anerkennt, muß gleiches auch für die Parteien tun.

Wer den Staat wiU, muß auch die Parteien wollen. Sie sind da, wo der Staat ist. Dieser könnte ohne sie nicht einen Tag leben und würde unvermeidbar in die Dispositionsmacht der Bürokratie übergehen, die jedoch unverzüglich selbst wieder Partei („Ein-Partei“) werden müßte, um sich der „Beute“ auf Dauer erfreuen zu können.

Die Parteien sind aber nicht nur ein Tatbestand, den man „seufzend“ hinnimmt, sondern

• eine Chance der Machtkorrektur gegenüber der Bürokratie,

• die Möglichkeit eines alternativen Handelns auch in Sachen Politik und Gestaltung des Gemeinwohles,

• die Möglichkeit, ja oder nein zu sagen, wenn Maßnahmen des Staates — der Regierung — auf Dauer unerträglich geworden sind.

Man ist leicht geneigt, in der Demokratie die unserer Art gemäße Lebensform de Politischen zu sehen, will aber nicht erkennen, daß man die Demokratie nur über die Parteien verwirklichen kann.

Das Volk ist gegenüber den Parteien keine Alternative und keine politische Potenz, „Volkswille“ ist stets nur Dekorum für Tyrannen, eine R ;cht-fertigungsformel, deren sich Despoten für ihre Maßnahmen bedienen.

Wo Staat ist, da ist Politik, und wo Politik ist, da sind nun einmal die Parteien; sie befinden sich in einem sachgesetzlichen Zusammenhang.

Die Volkssouveränität wird in der Demokratie von den Parteien auf Abruf verwaltet. Eine direkte Demokratie ist nur eine ausnahmsweise Chance. In der Situation der Stimmabgabe hat der Staatsbürger wieder die Verfügung über die von ihm delegierte und in seinem Namen während der Legislaturperiode auf die Verwaltung der staatlichen Geschäfte ausgeübte Einflußmacht. Nur am Wahltag ist Volkssouveränität eine Wirklichkeit.

In Wahlzeiten intensiviert sich nun bei vielen eine Abneigung gegen die Parteien, vor allem bei jenen, die gewohnt sind, stets ihre höchstpersönlichen Interessen mit den Maßnahmen des Staates zu identifizieren. Das Nein zu den Parteien führt nicht selten zum Entstehen von eigenartigen > A n t i-parteige bilden bis hin zu einer „Partei der Parteilosen“. Die intellektuell gepflegte, wenn nicht drohend-leidenschaftliche Ablehnung alles Politischen und der Parteien als seiner Vollzugsorgane läßt die Groteske von Anti-Partei-Parteien entstehen, die freilich, einmal in Schwung und etwa gar zur Macht gekommen, alle jene Eigenschaften in extremer Darstellung ausweisen, die sie an den „alten“, den „System“-Parteien, so verwerflich gefunden hatten. Wir haben auch in Österreich nicht selten solche eigenartige Gebilde, deren Mitglieder ihre Abneigung gegen die Parteien an sich dadurch bekunden, daß sie selbst eine Partei errichten, die, weil ohne Vergangenheit, auch ohne Makel dasteht.

Die Tatsache, daß sich jedes Engagement in der Politik schließlich und notwendig als Parteibildung vergegenständlicht, sollte uns erkennen lassen, daß aus einer inneren Gesetzlichkeit des politischen Prozesses heraus der Staat eben nur Parteienstaat sein kann. Oder eine im Dienst von Tyrannen stehende Bürokratie, die an Stelle von Gemeinwohl das Schafott präsentiert.

Dem Christen muß der Staat einenotwendige und angesichts der Eigenart der menschlichen Natur unvermeidbare Ordnungsmacht sein. Man kann wohl einen geschichtlichen Staat in seiner Entartung ablehnen. Nicht aber den Staat an sich.

Es ist nicht gut möglich, emphatisch vom „Reich Gottes“ auf Erden zu sprechen, sich aber der konkreten Möglichkeiten, dieses Reich zu konstituieren, zu begeben. Gottes „Reich“ ist kein privater Zirkel, keine Idee allein, sondern auch eine Summe durchaus realer Chancen, das Christliche in der Welt und mit dem von der Welt gebotenen Instrumentarium zu bezeugen.

Wer nicht wählt, legitimiert andere, für ihn den Staat zu gestalten, und wandert aus der Region des öffentlichen Lebens aus.

Wenn wir Christen den Staat wollen, müssen wir ihn auch in seiner Konkretheit wollen, in seiner geschichtlichen Eingebundenheit in einem Komplex von Bedingungen.

Der geschichtlich eingebundene Staat ist aber der Parteienstaat.

Die Parteien sind auch mögliche Vollzugsorgane des Sittengesetzes im öffentlichen Leben. Auf die Parteien Einfluß nehmen, heißt die Politik, die Art der staatlichen Verwaltung und der Realisierung des Gemeinwohls im Sinn des Sittengesetzes mitbestimmen.

Nicht mit Unrecht können die Menschen dem Staat, dessen Natur auch nur menschliche Natur, wenn auch höherer Ordnung ist, vielfache Entartung vorwerfen. Man mutet aber oft dem Staat eine Perfektion zu — etwa in der Sphäre der austeilenden Gerechtigkeit —, die man als einzelner nicht zu erreichen vermag, ja nicht einmal anzustreben gewillt ist. Der Staat ist nicht auf das Sittengesetz hin zu programmieren und elektronisch zu steuern. Er kann in keiner anderen Weise das Sittengesetz vollziehen, als es von seinen Führern im Rahmen der staatlichen Selbstverwaltung objektiviert wird.

Wenn wir in der Demokratie die politische Lebensform des Christen erkennen, müssen wir diese Erkenntnis dadurch vollziehen, daß wir, wenn aufgerufen, auch wählen.

Wer nicht wählt, hat auch gewählt. Unter Umständen solche, die eine Aufhebung der demokratischen Ordnung anstreben und auch der begehrten Freiheit, nicht zu wählen. Oder einmal anders zu wählen. Es gibt nur so viel an politischen und damit an allgemeinen wie höchstpersönlichen Freiheiten, als die Menschen besitzen wollen. Der einzige^ und keineswegs hohe Preis für die politische Freiheit, die eine Unsumme anderer Freiheitsbereiche in sich schließt, ist das Bekenntnis durch eine Stimmabgabe. Für eine Partei, der Freiheit nicht eine Formel, sondern lebensgestaltendes Prinzip ist.

Durch die Teilnahme an der Politik, und sei es nur in Form der Stimmabgabe, vollzieht der Christ auch eine Komplementärfunktion gegenüber der Seelsorge.

Die Gegner einer demokratischen Ordnung finden sich stets geschlossen an der Wahlurne ein. Nichtwählen bedeutet daher nicht politische Abstinenz allein, sondern die Rolle eines Hehlers für die Tyrannen von morgen spielen.

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