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Die Welt ist keine „Fabrik“

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Sagen wir es rundheraus: Die Diskussion in der Sowjetunion über Fragen der Ethik hat grundsätzliche Bedeutung dafür, ob es im Bereich des Denkens Möglichkeiten gibt, das Modell des Produktionsbetriebes für alle zwischenmenschlichen Beziehungen zu verabsolutieren. Da in der Sowjetunion offiziell gelehrte Marxismus-Leninismus ist nämlich die konsequente Ausarbeitung der These, daß die Gesellschaft eine „Fabriksbelegschaft“ sei. Die Menschen stehen also grundsätzlich und ausschließlich in solchen Beziehungen zueinander, wie sie in einer Fabrik gegeben sind. Das bedeutet, daß die Verhaltensweisen der Menschen sich an den Erfordernissen der Zusammenarbeit in einer Belegschaft zu orientieren haben.

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Sagen wir es rundheraus: Die Diskussion in der Sowjetunion über Fragen der Ethik hat grundsätzliche Bedeutung dafür, ob es im Bereich des Denkens Möglichkeiten gibt, das Modell des Produktionsbetriebes für alle zwischenmenschlichen Beziehungen zu verabsolutieren. Da in der Sowjetunion offiziell gelehrte Marxismus-Leninismus ist nämlich die konsequente Ausarbeitung der These, daß die Gesellschaft eine „Fabriksbelegschaft“ sei. Die Menschen stehen also grundsätzlich und ausschließlich in solchen Beziehungen zueinander, wie sie in einer Fabrik gegeben sind. Das bedeutet, daß die Verhaltensweisen der Menschen sich an den Erfordernissen der Zusammenarbeit in einer Belegschaft zu orientieren haben.

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Diese gesellschaftliche Modellvor-steHiung ist in der Beobachtung begründet, daß die Arbeitsverhältnisse den Menschen präigen. Diese sind infolge der fortschreitenden Arbeitseinteilung, besonders seit dem 17. und 18. Jahrhundert von der Einrichtung von Produktionsbetrieben bestimmt. Der Sozialismus ist die Formulierung der Bewußtsains-lage, die sich aus den so gesehenen Arbeitsbedingungen ergibt. Insofern der Sozialismus sich an gegebenen Produktionsverhältnissen orientiert, ist er zweifellos konservativ — er versucht eine möglichst weitgehende Identifikation des Menschen mit den gegebenen Lebensbedingungen in einer Welt — gesehen als Betrieb — zu erreichen. Der grundsätzliche Konservatismus des Sozialismus beruht auf der Einsicht, daß es keinen Sinn habe, an andere Lebensformen als die in einem Betrieb vorhandenen au denken. Er hat gute Grunde für sich. Daiß er zusätzliche Strukturmadelle entwirft, die die Anpassung der Menschen an die gegebene Lage erleichtern sollen, verleiht ihm den Anschein fortschrittlichen Denkens.

Die Arbeiterklasse, das Proletariat ist nun der Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, der den Standpunkt des Menschen ganz allgemein zu Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Der Klassenstandpunkt der Arbeiter ist die Forderung der

Sittlichkeit, es gilbt jenseits dieses Standpunktes keine alle verpflichtende Forderung. Jede diesem Standpunkt widersprechende Forderung ist pairtikularistisch, weil sie einer nicht allgemein verbindlichen Interessenlage entspricht. Zugehörige au anderen Klassen sind im Hinblick auf 'die Legitimität ihrer Forderungen unausweichlich unterlegen; sie diskutieren nicht auf derselben Ebene. Der Standpunkt der Arbeiterklasse wind von der Partei vertreten. Das Verständnis der Partei ist davon geprägt, daß sie sich als Betuu/Stseinseltte des Proletariats versteht

Die Sicht der Welt als Produktionsbetrieb ist das unausweichliche wissenschaftliche Gesetz der geschichtlichen Entwicklung. Durch die Parteielite wird die Forderung der geschichtlichen Entwicklung, also der Wissenschaft, unmittelbar formuliert. Die Wahrheit als wissan-sohaftlich erkannte Wahrheit ist an Parteilichkeit gebunden. Es gilt daher die Forderung nach Parteilichkeit für die Wahrheit.

Offensichtlich ist es der springende Punkt der Doktrin, daß die AllgemeinverbindlliChkelt des Standpunktes der Arbeiterklasse das wissenschaftlich ausgewiesene Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung ist. In deir Tat dürfte ein Zusammenhang zwischen der technologisch orientierten und motivierten Wissenschaft, dem Aufkommen des Ge-schichtadenkens im Kontext der ideellen Inkubation der franzosischen Revolution und der Arbeitsorganisation unverkennbar sein. Die Frage ist, wie begründet wird, daß in der modernen Arbeitsorganisation der produktiv Tätige das allgemein-menschliche Bewußtsein schlechthin repräsentiert. Parteilichkeit bedeutet ja die Orientierung aller Gesichtspunkte und Normen des Lebens an diesem — stellvertretend in der Partei formulierten — Bewußtsein.

Die AUigemeinverbindliChkeit der Klassenlage der Arbeiter versteht

sich aus dem Interesse, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen, also aus einem moralischen Pathos, das aber keineswegs „moralisch“, also überzeitlich-normativ, verstanden wird, sondern als zugleich klassenspezi-fische und doch allgemeinverbindliche Größe. Aussagen des Programms der KPSU über allgemein-menschliche Normen, „die von den Volksmassen im Laufe der Jahrtausende im Kampf gegen soziale Knechtschaft und sittliche Laster entwickelt wunden“, sollen in der sowjetischen Gesellschaft Wirksamkeit erhalten: denn hier werden ja

exemplarisch die Bedingungen geschaffen, damit die elementaren Regeln des menschlichen Zusammenlebens von allen Menschen befolgt werden können.

Nichts ist zugleich schwerer und leichter als die Darstellung des Inhalts der Normen und der Parteilichkeit. Was zunächst formal als sehr leicht erscheint — als Bindung an die Partei — die Sohischkin als „Gewissen des Volkes“ bezeichnet — ist von einer Reihe von Problemen mitbestimmt. Dem Inhalt nach sind die Normen, die altbekannten Forderungen, etwa der „Goldenen Regel“ („Was du nicht willst, das dir

gescheh', das füg auch keinem andern zu“), schon in Kants kategorischem Imperativ formuliert.

In der Tat wird und wurde das Spezifikum der sozialistischen Moral in der sowjetischen Diskussion ein-

gehend erörtert, analog etwa der „Unterscheidbarkeit des Christlichen“. Es ist nicht leicht, inhaltlich wesentlich und umwerfend neue Forderungen, verglichen mit dem europäischen Ethos, ausfindig, zu machen. Detailerörterungen, beispielsweise über ein Arbedtsethos, laufen auf die elementare Aufgabe hinaus, „das gesellschaftliche Getriebe aufrechtzuerhalten“, es vor Rowdytum, Schlägereien, Vergewaltigung, sinnloser Zerstörung gesellschaftlichen Eigentums au bewahren. Sie sind auf eine positive gesellschaftliche Zielsetzung gerichtet. Es

ist in der Diskussion wiederholt darauf hingewiesen worden, daß Marx in der „Ersten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg“ von „einfachen Gesetzen der Sittlichkeit“ sprach Bekanntlich' wurde jedoch gegen PleOhanow, der im Anschluß an solche Stellen von „einfachen Gesetzen von Sittlichkeit und Recht“ spradh der Vorwurf des „Kantianis-mius“ erhoben. Die Diskussion der zwanziger Jahre wurde schließlich in den Jahren 1929/30 im Sinne einer „Monopolisierung“ der Wahrheit und der Moral beendet.

Mit der Entstaiinlsianung setzte sich eine unterschiedlich große Dis-

soziation von Ideologie und Wissenschaft durch, deren neuralgischer Punkt Philosophie und Gesellschaftswissenschaft waren und sind. Diskussionspunkt ist das Maß, in dem Parteilichkeit in einem philo-

sophischen Sinne an Parteilichkeit in einem aktuell-politischen Sinne gebunden ist.

Man muß diese Diskussion auf Grund von Thesen von Drobnickij, die Peter Ehlen in seinem 1972 erschienenen Buch „Die philosophische Ehtik in der Sowjetunion“ dargestellt tot, kurz skizzieren. Es gibt ein Dilemma zwischen einer Auffassung der Pflicht, die von außen, von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, begründet ist, und der Forderung und Legitimation „revolutionärer Praxis“, die ja die Veränderung der Verhältnisse zum Ziel hat. • Das

Dilemma der Sicherung revolutionär i verstandener sozialer Errungenschaften wird in dieser Problemstellung aufgegriffen. Die Frage der gesellschaftlichen Normen weist auf universale Forderungen, die mit der menschlichen Natur als solcher gesetzt sind, zugleich aber auf den geschichtlichen Kontex ihrer Realisierung im Klassenkampf zurück, der jedoch nicht mit der Bindung an ,AUtagsfakten“ verwechselt werden darf. Jenseits des Widerspruchs von Fakten und Wert, der von der Autorität der Menschheit legitimiert ist, steht die „objektive Wirklichkeit“.

Es ist deutlich, daß Drobnickij dabei grundsätzlich innerhalb des Ansatzes, der die Welt als Produktionsbetrieb betrachtet, bleibt. Dies zeigt sich an seiner Frage nach dien sozialen Mechanismen ebenso wie an seiner Bestimmung von Natur als potentielles» Objektt menschlicher Aktivität. Immerhin stellt er die Fragen in einer jeder Phraseologie

abholden und der Prablemdimension bewußten Weise.

Wir sahen den Zusammenhang der Konzeption von Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen, der wissenschaftlichen Entwicklung und der modernen Arbeitsorganisation, die zu dem Prinzip der Parteilichkeit für die Wahrheit führte. Dabei ist das auf diesem Zusammenhang aufbauende Denken so lange grundsätzlich legitimiert, als seine Prämissen unangefochten sind. Diese bestehen in der radikalen Funktionalisierung der Begriffe Geschichte, Wissenschaft und Arbeit und ihrer wechselseitigen Interpretierbarkeit im Sinne der Aufhebung der Ausbeutung. Identifiziert man die Aufhebung der Ausbeutung mit Verstaatlichung der Produktionsstätten, wird man keine entscheidenden Argumente gegen die Folgerichtigkeit der Forderung nach Parteilichkeit der Wahrheit haben.

Dieses Verständnis ist so lange konsequent, als die Welt als Produktionsbetrieb verstanden werden kann. Es liegt jedoch auf der Hand, daß dieses Modell von zwei Gesichtspunkten her entscheidend eingeschränkt werden muß: Die Menschen zeigen in ihren zunehmenden Verhaltensstörungen, daß sie nicht allein als Arbeiter verstanden werden können. Wie soll ein Modell, das den Menschen vom Produktionsprozeß her versteht, in der Lage sein, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß der Mensch sich zum anderen Menschen nicht wie zu einem Ding verhalt?

Daß Verstaatlichung von Produktionsbetrieben als solche noch nicht Mitbestimmung, aber schon gar nicht Identifikation mit der Tätigkeit, also Aufhebung der Entfremdung bedeutet, braucht' nicht eigens bewiesen zu werden. Hier wird die Umwandlung eines abstrakten Rechtstitels bereits für die Änderung einer grundlegenden Einstellung des Menschen zu seiner Tätigkeit genommen.

Wenn heute Parteilichkeit am Platze ist, dann in dem folgenden Sinne: für eine Solidarität des Lebens schlechthin, die alles Lebendige nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck an sich selbst setzt.

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