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Eine geheime Rußland-SP?

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Im Untergrund der kritischen Sowjetintelligenzija hat sich der Embryo einer sozialdemokratischen Partei entwickelt. Die erste Nummer Ihres Orientierungsblattes, genannt „Die Saat“, umriß bereits Ideologie, Strategie, Programm und Organisationsform der zukünftigen sowjetischen Sozialdemokraten. Im Vorwort wird als Ziel die Verwirklichung eines „demokratischen Sozialismus“ angegeben. Die präsumtive Parteiführung rechnet in erster Linie mit der jungen Intelligenz, da in der Sowjetunion „eine effektvolle politische Tätigkeit nur von gebildeten, mutigen, jungen Menschen verwirklicht werden“ könne. Dennoch rollen die Interessen aller Gesellschaftsschichten vertreten werden. Obwohl die jetzige Situation für eine Parteigründung gar nicht ermutigend sei, wäre das Sowjetleben vollkommen hoffnungslos ohne den Vorschlag einer Alternativlösung — argumentieren die Gründer.

Obwohl das Programm der unterirdischen Sozialdemokratie die sowjetischen Antikommunisten nicht voll befriedigt und es auch mit der Auffassung der westlichen Bruderparteien nicht identisch ist, muß man es dennoch aufmerksam unter die Lupe nehmen, weil es für die Mentalität der jungen Sowjetgeneration sehr charakteristisch ist. Eine

„wissenschaftlich-demokratische Führung soll die derzeitige „mechanische Machtstruktur“ ablösen. Man will zur ursprünglichen leninistischen Wirtschaftsreform zurückkehren: kleine bäuerliche Privatgüter sollen rekonstruiert und die Privatproduktion in gewissen Grenzen erlaubt werden; Privatinitiative soll auch bei allen Dienstleistungen erlaubt sein; an der Verstaatlichung der Schwerindustrie und der Bergwerke soll jedoch nicht gerüttelt werden. Die Staatsbetriebe sollen allerdings nach „demokratischen Lenkungsmethoden“ geführt werden. Kein Manager dürfe mehr das Fünf- oder Sechsfache der kleinsten Einkommen verdienen.„Ideologische Disziplin“ und Gehirnwäsche sollen endgültig abgeschafft werden. Presse-, Theater- und Filmzensur sollen abgeschafft werden. In den Massenmedien soll nur die Propagierung der Pornographie, der Gewalttaten und des Rauschgiftgenusses verboten sein.

Eine allgemeine Humanisierung der Politik wird angestrebt, die materialistischen Produktionsziele haben vor den menschlichen Anliegen in den Hintergrund zu treten. Mit den Steuergeldern der Sowjetarbeiter dürften nicht mehr faschistische oder halbfaschistische Regierungssysteme in Afrika und im arabischen Raum unterstützt werden. Die unterdrückten osteuropäischen Völker müßten ihr u nbeschränktes Selbstbestimmungsrecht wieder erhalten.

Das Programm der unterirdischen sowjetischen Sozialdemokratischen Partei will eine alternative Lösung ohne Revolution bieten. Wann und wie es verwirklicht werden soll, ist insofern ein Fragezeichen, als die meisten Mitarbeiter der „Saat“ sich derzeit in Gefängnissen und Irrenanstalten befinden. Aber die Bewegung lebt und hoffnungslose Programme haben eine lange Tradition in Rußland! Bedauerlicherweise gibt es derzeit nicht weniger als neun Widerstandsgruppierungen, die kritische Broschüren redigieren, sie verbreiten und manchmal sogar laut protestieren. Es sind dies

• die Jüdischen Aktivisten: ihr Hauptziel ist die Sicherung des ungestörten Auswanderungsrechts und der vollen Bürgerrechte für alle Juden, die in der UdSSR leben;

• die Neokommunisien: sie wollen den Kommunismus humanisieren; ihnen schwebt ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ä la Dubcek vor;

• die Liberalen: sie sind gegen den Kollektivismus und für die Restaurierung der persönlichen Freiheitsrechte;

• die Konstitutionellsten: im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verlangen sie Reformen. Ihr Aushängeschild ist der international bekannte und geschätzte Wissenschaftler und Akademiker Sacharow;

• die Neo-Slawen: Antisemiten mit imperialistischen, großrussischen Herrschaftsträumen;

• die Christlich-Sozialen: sie streben, wie die „Progressiven“ im Westen, eine Synthese zwischen dem Christentum und dem Marxismus an;

• die Verfechter der Menschenrechte: sie wollen in der Sowjetunion „wahre Demokratie im Geiste der Charta der Vereinten Nationen“ einführen. Die Exponenten dieser Gruppe sind namhafte Künstler und berühmte Schriftsteller, vor allem der Nobelpreisträger Solschenizyn;

• die Christlichen Demokraten: sie verlangen eine „restlose Demokratisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens“, dazu volle Religionsfreiheit;

• die Sozialdemokraten: siebe oben. Daß alle diese Gruppierungen vereint viel mehr erreichen würden, liegt auf der Hand. „Die Saat“ schlägt daher vor, man möge ein gemeinsames Programm entwerfen und sich organisatorisch vereinigen — womöglich freilich innerhalb der unterirdischen Sozialdemokratischen Partei.

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