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Gastrecht zwischen den Moscheen

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Nach einer Zeit relativen Friedens beginnt sich die Hauptstadt ^gyptens, Kairo, wieder zu verhiillen. Die blauen Verdunke-lungsanstriche an Fenstern und Autoscheinwerfern, die bereits abzublattern begannen, werden erneuert. Die unermeBlichen Schatze des agyptischen Museums Ziehen wieder ein in ihre bombensicheren Unterkunfte. Die Hoffnungen auf einen dauer-haften Frieden mit Israel zerrinnen. In den Moscheen der Mohammedaner, in den Kirchen der Orthodoxen und Katholi-ken und in der einzigen noch betreuten judischen Synagoge reiBen die Gebete nicht ab. Und iiber den Kuppeln der kleinen Kirche von Al Zaitun erscheint in einer Silberwolke die heilige Jungfrau.

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Nach einer Zeit relativen Friedens beginnt sich die Hauptstadt ^gyptens, Kairo, wieder zu verhiillen. Die blauen Verdunke-lungsanstriche an Fenstern und Autoscheinwerfern, die bereits abzublattern begannen, werden erneuert. Die unermeBlichen Schatze des agyptischen Museums Ziehen wieder ein in ihre bombensicheren Unterkunfte. Die Hoffnungen auf einen dauer-haften Frieden mit Israel zerrinnen. In den Moscheen der Mohammedaner, in den Kirchen der Orthodoxen und Katholi-ken und in der einzigen noch betreuten judischen Synagoge reiBen die Gebete nicht ab. Und iiber den Kuppeln der kleinen Kirche von Al Zaitun erscheint in einer Silberwolke die heilige Jungfrau.

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In Trauben hangen die Menschen auf den langsseitsgefiihrten Tritt-brettern der Autobusse der Linie 44, die nach Al Zaitun fiihrt. Mit ach-zenden Blattfedern machen sie ihre Runde vor dem Ramsesbahnhof, dortselbst stiirzen die Massen zu den billigen Lokalziigen nach Al Zaitun.

Das Ziel vieler an diesem Nach-mittag ist eine kleine koptische Kirche im Vdrort Al Zaitun, im Osten der Stadt.

Es ist die Kirche zur Heiligen Jungfrau mit ihren fiinf Kuppeln, in deren umfriedetem Kirchhof bereits Tausende Platz genommen haben.

Die Platze in den schattigen Arka-den vor dem Pfarrhause sind bereits vergeben. Auf der gegeniiberliegen-den Strafienseite hat ein geschafts-tiichtiger Grundbesitzer Stuhlreihen aufgestellt und vermietet die Platze gegen bare Kassa. Das Gros der Be-sucher nimmt auf den Gehsteigen der vorbeifuhrenden StraBe Platz und richtet sich hauslich ein. Denn es wird eine lange Nacht werden.

Die Mokkaschalen gehen von Mund zu Mund. Abgeknabberte Maiskol-ben liegen im Rinnsal. Die Fremden-| polizei, fiir Ruhe und Ordnung ver-* antwortlich, hat es langst aufgege-ben, ihr Pflichtziel zu erreichen.

Der Abend des 2. April 1968 hatte die Handwerker und Gewerbetrei-benden von Al Zaitun aus ihrem Dammerschlaf gerissen. Gegenuber der kleinen koptischen Kirche repa-rierte der Moslem Sheheta Man-sour zur spaten Abendstunde ein klappriges Fahrzeug, als er plotzlich aufschrie und erregt auf die Kuppel der Kirche zeigte. In eine helle Lichtwolke gehuilt, die iiber den Kuppeln lagerte, meinte er eine Ge-stalt auszunehmen.

Am nachsten Tag , waren bereits die agyptischen Zeitungen voll mit Berichten iiber die Vision Sheheta Mansours.

Und immer wieder meldete der Mohammedaner Mansour die wie-derholten Visionen. Der koptische Pfarrer der Kirche zur Heiligen Jungfrau versuchte der wachsenden Erregung der Leute zu begegnen, in-dem er die Visionen Mansours ins Reich der Fabel verwies.

SchlieBlich mufite der koptische Patriarch von Agypten, Kyrollos VI., eine Untersuchungskommission ein-setzen, die sich mit der Madonnen-erscheinung von Al Zaitun zu befas-sen hattte.

DaB es die Heilige Jungfrau selber sei, die sich in wiederkehrenden stummen Erscheinungen den Agyp-tem zeige, laBt sich niemand in Kairo und Agypten nehmen. Und die Menschen, die die Heilige Jungfrau gesehen haben wollen, sind Ange-horige der verschiedensten Religio-nen: Moslems, Kopten, Katholiken, Juden und Religionslose. Sie alle be-statigen die Meldung Sheheta Man­sours.

Seither hat Zaitun sein Gesicht verandert. Jeder mohammedanische und christliche Sonntag wird zu einem Feiertag mit Massenandrang und hoher Visionserwartung. Und wenn an einem Abend die Erschei-nung der „Heiligen Jungfrau, die nach Agypten zuruckgekehrt ist“ ausbleibt, geht man ohne Enttau-schung auseinander.

Was seit dem 2. April 1968 in Zai­tun geschieht, kann nur mit Lourdes und Fatima verglichen werden: Kranke werden geheilt. Viele Blinde erwarben wieder ihr Augenlicht.

Zaitun ist ein richtiger Wallfahrtsort mit alien kommerziellen Aus-wiichsen. Kleine, flinke Jungen ver-kaufen Madonnenbilder verschie-denster Art.

Die koptischen Priester haben dem Volkswillen Rechnung getragen und feiern an den Erscheinungsabenden Gottesdienste. Vor den Madonnen-bildern brennen unzahlige Votivker-zen. Ein endloser Besucherstrom zieht an ihnen vorbei. Die Beriih-rung mit Hand und Mund soli Gluck birngen. Und Pfarrer Georgos Bista-vros schreitet durch die dichtge-drangte Menge und verteilt das Abendmahl in der Gestalt kleiner Brote mit dem koptischen Kreuzes-zeichen.

Da ist Magda Halim, eine 24jah-rige Agypterin, Sprachstudentin, koptische Christin, die mit ihrem Bruder Achmed die Kirche zur Hei­ligen Jungfrau in Zaitun besuchte. Eingekeilt in tausende Pilger erwar-tete sie die Erscheinung. „Ich habe die Heilige Jungfrau von Al Zaitun gesehen“, erklart Magda Halim ohne Uberschwang.

Selbstverstandlich drangen sich sofort Fragen auf: „Was sehen Sie? Wie ist die Erscheinung? Wird eine Botschaft mitgeteilt? Was fiihlen Sie wahrend der Erscheinung?“

Die Antwort der dunkelhaugigen Magda Halim aus dem Kairoer Stadtteil Abu Sarga ist nichts weniger als einfach:

„Es ist ein wunderbares Gefiihl, das einen gefangen nimmt. Die Ma­donna ist ganz still und ruht fiir eine kleine Weile mit ausgebreiteten Handen auf den von Licht einge-schlossenen Kuppeln der Kirche. Man gewinnt das BewuBtsein voll-kommener Sicherheit und geht ge-trdstet nach Hause.“

*

In „Babylon“, jenem alten Stadt­teil Kairos zwischen dem Ostufer des Nils, der Zitadelle und der Moham-med-Ali-Moschee, wurden vor Tau-senden von Jahren die Granitblocke fiir die Pyramiden der Pharaonen aus den Steinbriichen geholt.

Heute ist es ein armseliger Stadt­teil, in dem dicht zusammengedrangt rund zweihunderttausend Menschen leben. Mehr als ein Drittel davon sind Mohammedaner, an die dreiBig-tausend Christen aller Schattierun-gen und — 25 judische Familien. Es sind die letzten Juden von Kairo. Sie leben eng geschart um die Synagoge Ben Ezra. Ihre Wohnstatten sind barackenartige Unterkunfte mit ein-zelnen Verschlagen fiir die ganze Familie.

Spuren von Tageslicht fallen in der Synagoge durch ein vergittertes Fenster und zittern iiber eine triibe Fliissigkeit am Brunnenboden. Hier wurde nach einer Uberlieferung des Alten Testamentes der Mosesknabe aufgefunden und gerettet.

Die letzten Juden von Kairo nen-nen ihr Nest inmitten von Armut und Not nicht umsonst „Babylon“. Die Notstandsquartiere, welche die einst reichen Juden fiir ihre armen Glaubensbruder nahe der Synagoge Ben Ezra erbauten, sind nun ihr Zu-hause.

Und an der Tiir des altesten judi­schen Heiligtums in Agypten hangt eine Tafel mit einer Danksagung fiir das Land, in dem sie wohnen: „Dank fiir das Privileg, in dem fiir seinen Liberalismus und seine religiose To-leranz bekannten Niltal wirken zu diirfen. Dank und Ergebenheit dem Fiihrer der Revolution!“

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