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Marx und der „Revisionismus“

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Für die Moskauer Chefideologen ist bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den westlichen Bruderparteien ein Standpunkt unaufgebbar: Der Marxismus sei in seinen Kernaussagen wahr! Deshalb sei es unmöglich, abweichende Positionen einzunehmen, sonst müßte der Marxismus selbst einer Revision . unterzogen werden. Scheinbar haben die Sowjets ihren Marx nicht so eingehend studiert wie es Professor Gustav A. Wetter S J getan hat. Denn er bewies anläßlich eines Eurokommunismus-Seminars des Europahauses Salzburg, daß „das Denken in den Kategorien Orthodoxie und Revisionismus nicht nur eine konstante Tradition im Marxismus darstellt, daß es vielmehr auch Marx selbst zu eigen war und in seiner Lehre seine Grundlage hat“.

Als charakteristische jüngere Beispiele für diese Auseinandersetzung zog Wetter die schweren Richtungskämpfe im Sowjetmarxismus auf dem Gebiet der Biologie, der Physik und der empirischen Soziologie heran, wobei immer auf einer der beiden Seiten oder auf beiden ein Bestreben sichtbar geworden sei: „Die anstehenden Sachfragen nicht durch sach-orientierte Argumentation, sondern durch den Aufweis der Vereinbarkeit oder Nichtverein-barkeit der einen oder anderen Lösung mit der marxisitischen Ideologie zu entscheiden.“ Diese Zusammenstöße zwischen Verfechtern der „reinen Lehre“ des Marxismus und Neueren, die gegen irgendwelche Thesen des dialektischen und historischen Materialismus verstoßen und damit die Ideologie einer Revision unterzogen hätten, stellen aber laut Wetter keine zufälligen Entgleisungen dar.

Wetter ging kurz auf Lenins - und auch Plechanows - Kampf gegen den „philosophischen Revisionismus“ ein und beschäftigte sich dann eingehend mit der großen Revisionismusdebatte, die um die Jahrhundertwende von Eduard Bernstein in der deutschen Sozialdemokratie ausgelöst worden ist, als er seine Genossen aufgefordert hatte, Theorie und Sprechweise mit der Praxis in Einklang zu bringen. Wetter meinte dazu: „Die Thesen Bernsteins wurden von der Partei als (Revisionismus verworfen. Seither hat der Ausdruck .Revisionismus' pejorative Bedeutung und ist gleichbedeutend mit Ketzerei, Abweichung von der wahren Lehre, wodurch aber diese Lehre selbst automatisch den Charakter einer .Orthodoxie' erhält“

Was die ganze Auseinandersetzung bei Marx und Engels selbst betrifft, werde sowjetischerseits als Beispiel von Marxens Kampf gegen „Revisionismus“ der „Zirkularbrief' vom September 1879 angeführt, in dem er außerordentlich heftige Angriffe gegen einen Artikel im „Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ gerichtet habe. Marx habe den Autoren dieses Dreistern-Artikels zum Vorwurf gemacht, daß sie von einem grundlegenden Punkt seiner Lehre, dem Prinzip des Klassenkampfes, abgewichen seien. Der Vorfall zeige, daß Marx wenigstens einen Kern seiner Lehre als verbindlich ansah.

Aus dem, was Marc! über die „weltgeschichtliche Rolle“ des Proletariates gesagt habe, könne geschlossen werden, daß das Denken in den Kategorien „Orthodoxie“ und „Revisionismus“ tiefer in einer Lehre verwurzelt sei. Die Mission der Arbeiterklasse bestehe nämlich für Marx darin, ein für alle Male die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen und alle Entfremdung des Menschen zu überwinden und damit nicht nur das gesellschaftliche Sein, sondern auch das gesellschaftliche Bewußtsein in seine Wahrheit zu bringen. „Daraus folgt dann“, meinte Wetter abschließend, „daß jeder, der sich auf die Wahrheit ausrichten will, sich die .proletarische Anschauungsweise' aneigenen muß.“

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