Das Schweigen der Siebenbürger Sachsen

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Ein fulminanter Auftakt. 1941: In einem Güterzugwaggon, auf dem Weg von Siebenbürgen nach Wien, erzählt Leontine Philippi, die zentrale Figur dieses Romans, eine aufregende Geschichte. Die Geschichte einer jungen Frau, die irrtümlich für tot gehalten und begraben wird, aber wieder aufwacht und ins Leben zurückkehrt und dann allerhand böse und schöne Überraschungen erlebt. - Die Zuhörer, junge Männer, abkommandiert zum Militärdienst, werden freilich nicht recht schlau daraus, was diese Geschichte zu bedeuten hätte; und so begnügen sie sich mit der Feststellung, Leontine habe immer schon gerne Geschichten von Wiedergängern aufgewärmt, mehr wäre dazu wohl nicht zu sagen.

Leontine aber, geb. 1888 in Kronstadt, aufgewachsen in einem sächsischen Patrizierhaus, seit dem Ersten Weltkrieg wohnhaft in Zeiden, inzwischen also auch unterwegs ins Dritte Reich, ist alles andere als eine naive Erzählerin; sie hat in Wien Geschichte studiert und die Schriften Sigmund Freuds kennen gelernt, sie weiß, was es bedeuten würde, "Zuflucht, Schutz, Gewissheit gegen die Schrecken der Nacht", endlich ein "Zuhause" zu finden. - In Zeiden hat sie es nicht gefunden. Ob sie es in Deutschland findet, "ob ihre Kräfte ausreichen", die letzte Frage, die er aufwirft, bleibt in diesem Roman offen. Denn Ursula Ackrill blickt nach diesem Auftakt nicht weiter voraus, sondern zurück in die Vergangenheit.

Zeiden. Tiefste Provinz. Der Hauptschauplatz des Romans, im 13. Jahrhundert vom Deutschen Orden gegründet, gehört seit dem Ende der Donaumonarchie zu Rumänien. Die deutschsprachige Bevölkerung aber hat noch immer das Sagen, noch. Im Jänner 1941 gerät nämlich vieles in Bewegung, schließlich auch der Güterzug, der Leontine mitnimmt; und die Siebenbürger Sachsen verlieren, was sie seit Jahrhunderten als ihr Zuhause betrachtet haben.

Winzige Szenen aus dem Alltag

In dieses Koordinatensystem ist der Plot des Romans eingebunden. Keine durchgehende Handlung. Stattdessen eine lange Kette von mehr oder weniger zusammenhängenden kleinen Szenen, die veranschaulichen, was sich in Zeiden, in diesem Jänner zuträgt, und die ergänzt werden durch Aufzeichnungen zu Ereignissen in Kronstadt, in Bukarest, in Wien (und auch andernorts) sowie durch Rückblenden auf Schlüsseljahre der Geschichte Siebenbürgens, angefangen von der Jahrhundertwende über 1933 und 1939 bis 1941. Kleine, winzige Szenen aus dem Alltag in Zeiden; aber dicht zusammengedrängt, mit unerhörter Akribie ver-dichtet, verweisen auf eine Atmosphäre, in der sich Wertvorstellungen längst vergangener Epochen mit Modernisierungsprozessen überkreuzen und schließlich kaum mehr anderes übrigbleibt als "das mulmige Zergehen in der Wärme der Schicksalsgemeinschaft". Die Hauptpersonen des Romans (im Übrigen keineswegs frei erfunden), hören allesamt (abgesehen von Maria Tatu, die als Dienstmädchen bei Leontine beschäftigt ist) auf deutsche Namen. In ihren Gesprächen, in ihren Reaktionen auf die laufenden weltgeschichtlichen Ereignisse äußert sich die Mentalität einer Landsmannschaft, die das Deutschtum hochhält und folglich freizügig alle Vorurteile zelebriert, die damit zusammenhängen: gegen die Ungarn, die Juden, die Zigeuner. Nur Leontine kann sich mit dieser Mentalität nicht anfreunden; sie hat ein Herz für die Arbeiter und Bauern, und sie versteht auch die Rumänen gut, die es am liebsten sähen, wenn sie diese Sachsen endlich los wären.

Verschließen statt verstehen

Stichwort 'verstehen'. So wie die im Güterzugwaggon eingeschlossenen angehenden Soldaten haben die meisten Figuren wiederholt Schwierigkeiten fremden Gedankengängen zu folgen und angemessen mitzubekommen, was immer an sie herangetragen wird. Es

ist, als wäre ihnen Hören und Sehen vergangen; wo alles rotiert, ist ihnen offensichtlich die Fähigkeit abhanden gekommen, sich gegen das Abrutschen in gefährliches Gelände, in politischer wie in moralischer Hinsicht, einen einigermaßen sicheren Standort zu bewahren.

Sie beschwören zwar pausenlos ihre "zivilen Weeeerte", aber hinter ihren Reden tun sich kolossale Risse auf. Gleichwohl, nur Leontine, die Flaubert bewundert und Manet, vermisst rundherum Schamgefühl und Anstand: "Unsere Sympathie tendiert immer zu den besser Angepassten." Die Figuren ihrer Umgebung, allesamt undurchsichtig, orientieren sich nämlich vorzugsweise an den Verhaltensmustern der Mitläufer, und gegen alle Einflüsterungen, die ihnen nahelegen könnten, die lieb gewordenen Gewohnheiten aufzugeben, dichten sie sich ab. "Als Sachse kommt man mit einem Kallus auf die Welt"; das aus der Botanik und aus der Medizin bekannte Gewebe verschließt und heilt ihrer Überzeugung nach ja doch alle Wunden und obendrein auch Brüche.

Schweigen statt Mut

Sogar Leontine ertappt sich dabei, dass sie hin und wieder auf Maria, das rumänische Dienstmädchen, herabschaut und sie heimlich überwacht. "Das ist der Kallus." Alle anderen hingegen sind stolz darauf, oder -sie schweigen, wenn's nötig wäre, Mut zu beweisen und aufzustehen, Maßnahmen zu ergreifen gegen die zunehmende Gewalt.

Wie sie untereinander sich beweihräuchern. Wie sie sich aufspielen als die Ordnungshüter Südosteuropas. Wie sie schließlich vor keiner Grenze mehr zurückschrecken, sei's in politischer sei's in sexueller Hinsicht. Leontine wird von Fieberträumen heimgesucht: "Ich kann nichts ausrichten. Ich kann niemandem erklären, warum die Feuer von Sonnwendfeiern [...] auf dem Zeidner Berg [...] ein toller romantischer Spaß sind [...], wobei. Ich kann niemandem weismachen, warum der Spaß beim Bücherverbrennen aufhört." Gegen die Literatur und Kunst der Moderne, die sie nicht verstehen oder auch deshalb ablehnen, weil sie in ihrem Spiegel "dumm und alt aussehen", setzen die Sachsen Karl May und Gustav Frenssen. "So wird man Herr der Lage." So, andrerseits, sieht Leontine am Ende sich gezwungen, Zeiden zu verlassen.

Blitzschnell wie die Szenen wechseln in diesem Roman die Perspektiven. Sicherheit ist nirgends. Aber so wird Atmosphäre plastisch wahrnehmbar, greifbar, transparent: Der Roman hält, in eindrucksvoller Manier, was die unvergessliche erste Szene schon verspricht; er schließt damit an eine große Traditionslinie an, die mit Hermann Brochs "Bergroman" beginnt, später weitergeführt wird u. a. von Franz Tumler ("Ein Schloß in Österreich") und Hans Lebert ("Die Wolfshaut") und nach wie vor eine spektakuläre Herausforderung darstellt für die etablierte Historiographie.

Zeiden, im Januar Roman von Ursula Ackrill, Wagenbach 2015,256 S., geb., € 20,50

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