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Digital In Arbeit

Die Frage der Gerechtigkeit

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DER BEGRIFF DER „NATUR DER SACHE“. Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung. Von Herbert Schamb eck. Springer,Verlag, Wien, 1964. 158 Seiten.

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DER BEGRIFF DER „NATUR DER SACHE“. Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung. Von Herbert Schamb eck. Springer,Verlag, Wien, 1964. 158 Seiten.

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„Das gesamte politische Tagesgeschehen stellt sich als eine endlose Diskussion über die Gerechtigkeit dar“, sagt G. Radbruch in seiner vielzitierten „Rechtsphilosophie“. Radbruch denkt offenbar an die heutige weltanschauliche und verbandsorganisatorische pluralistische Gesellschaft. Die fragliche Diskussion wird praktisch jeweils entschieden durch den Gesetzgeber, sie selbst geht aber mit dem fortwährenden Wandel der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Verhältnisse weiter. Weder diese fortgesetzte Diskussion noch die davon bestimmte Entscheidung des Gesetzgebers kann zu Ergebnissen führen, die im wahrhaften, nämlich dauernden Allgemeininteresse liegen, wenn sie nur nach ideologischen Gesichtspunkten erfolgen. Es kommt vielmehr auf Sacheinsicht und Sachur- teil an. Sachentsprechung und Interessenausgleich fordern, wie Schambeck in der Einleitung hervorhebt, von der Rechtsetzung und Rechtsvollziehung ein neues Denken. Diese Überzeugung setzt sich in rasch zunehmendem Maße auch in der öffentlichen Meinung durch. Schon aus diesem Grunde ist das Thema, das sich Schambeck gestellt hat, von unmittelbarster Bedeutung.

Das eigentliche Gewicht der Arbeit Schambecks liegt aber darin, daß er die Frage der Gerechtigkeit in ihrer Tiefendimension als die der Seinsgrundlage allen Rechts angeht. Die Frage der Rechtsgrundlagen bildete den Gegenstand der weitgespannten Diskussion in Deutschland und Österreich nach dem Ende der nationalsozialistischen Rechtsvergewaltigung. Trotz des kaum noch übersehbaren Umfangs der’ aus dieser Diskussion erwachsenen Literatur weiß Schambeck von seinem Gesichtspunkt, dem der „Natur der Sache“, überraschend noch nicht gesehene Problemzusammenhänge aufzudecken. Nicht zuletzt die dabei zur Anwendung kommenden ontologischen Analysen begründen den besonderen Wert seiner Arbeit.

Der Begriff „Natur der Sache“ ist nicht neu, hat aber einen Sinnwandel durchgemacht, den Schambeck im ersten Teil seiner Arbeit von der Antike über die Naturrechtslehre des Mittelalters bis in die Neuzeit und Gegenwart verfolgt. Gegenüber dem verengenden Gebrauch des Begriffes in der neuesten wie in der älteren Literatur entwickelt Schambeck im Zweiten Teil des Büches seinen Begriff der „Natur der Sache“. Nicht an einen „sachrechtliehen“ Begriff im engeren juristischen Sinn ist zu denken, sondern an die Wesensnatur der die Rechtswelt bildenden tatsächlichen Gegebenheiten mit dem Menschen als Mittelpunkt. Die „Natur der Sache“ bildet daher einen Grundbegriff der Rechtsontologie, und da mit ihr gleichzeitig das Gesolltsein im Recht erfaßt wird, ebenso einen Grundbegriff der Rechtsethik: die „Natur der Sache“ läßt die wesenhaften Seinsgrundlagen und die wertbestimmten Ordnungsziele des Rechtes in ihrem inneren Zusammenhang sehen. Durch eine Fülle von Beispielen aus verschiedenen Rechtsbereichen erhält die Arbeit Schambecks ihre anschauliche konkrete Eigenart.

Diese Eigenart bewährt sich wieder bei der im dritten Teil erfolgenden Behandlung der Tragweite der „Natur der Sache“ für das positive Recht. Schambeck weist sie als Quelle der Rechtserkenntnis nach, weil daraus die für den Gesetzgeber maßgebende wesenhafte Ordnung menschlichen Verhaltens zu ersehen ist, als Wertungsquelle des positiven Rechts für den Fall, daß das Gesetzesrecht zu dieser Ordnung im Widerspruch steht, als Erzeugungsquelle des Rechts, soweit der Gesetzgeber sie als allgemeines Prinzip in das positive Recht aufnimmt, als Auslegungsprinzip, wenn vom Gesetzgeber als solches anerkannt, in konkreten Fällen der Anwendung von Normen des positiven Rechts, wie an der Grundrechtsjudikatur gezeigt wird. Schließlich werden die Möglichkeiten einer ergänzenden und abändernden Rechtsfindung nach dem Prinzip der „Natur der Sache“ behandelt und durch Beispiele des Rechtsverfahrens in Österreich, Deutschland und der Schweiz sowie an der dadurch bedingten Rechtsprechung belegt.

Im Schlußteil setzt sich Schambeck mit der Sinngebung des Begriffes der Natur der Sache in der neuesten rechtswissenschaftlichen Literatur auseinander, weist bei den einzelnen Autoren Verengungen in dieser Sinngebung nach, vermag dabei kritisch die von ihm erarbeiteten Einsichten fruchtbar zu machen und so die Überzeugungskraft seines Ergebnisses noch weiter zu unterbauen: daß in der „Natur der Sache“ ein ontologischer wie ein normativer Tatbestand gelegen ist, dessen Erkenntnis das Vordringen zu den wesenhaften Seinszusammenhängen erfordert, die unabhängig vom Willen des Menschen und des Gesetzgebers gegeben und für Gesetzgebung und Rechtsprechung bestimmend sind.

Der Autor macht es dem Leser mit dem inhaltlich dichten, darum ergiebigen Buch nicht immer leicht, er hat es sich aber auch selbst nicht leicht gemacht. Das zeigt die Heranziehung einer außerordentlich zahlreichen älteren, neueren und neuesten Literatur (bei der sonst so genauen Zitationsweise fällt auf, daß das wichtige Kant-Zitat S. 51 nicht mit Ausgabe und Seitenzahl belegt ist). Oft kann er diese Literatur für sich sprechen lassen, ebenso oft muß er sich aber unter immer neuen Gesichtspunkten damit auseinandersetzen, bei der Klärung seines Problems, eines Schlüsselproblems für so viele Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtspolitik, aber auch der staats- und gesellschaftspolitischen Verantwortungsethik in der heutigen Demokratie, wonach „das politische Wollen und die entsprechende Seinseinsicht“ (Schlußwort) zum Besten des Allgemeininteresses Hand in Hand gehen müssen.

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