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„Zwischen Parteiräson und Staatswohl“

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Der Ruf nach Demokratisierung und Transparenz, durch Wiederholung zur Worthülse gewordene Tendenz, verbalisiert das Mißbehagen des einzelnen mit dem undurchschaubaren und kalt-anonymen Gebilde — genannt Staat. Die tatsächliche Entwicklung verläuft jedoch diesen Wünschen nach heimeligen und für das Individuum adaptierten Autoritäten konträr: Immer interdependenter werden die einzelnen Faktoren, immer weniger steuerbar die Eigendynamik eines Gemeinwesens, immei gigantischer die Machtagglomerationen, immer komplexer die Kompetenzen. Der Staat vermachtet, Verantwortung und Kompetenzen werden von unten nach oben delegiert. Und „oben“, das ist dem Zugriff des Normadressaten entzogen oder doch entrückt.

Neu auftauchende Sachverhalte, die es in Kompetenztatbestände umzugießen gilt, vermehren die Gewichtigkeit des Apparates. Bestes Beispiel: Umweltschutz. Welch eine monströse Verwaltungsmaschinerde wird notwendig sein, um die Aufgaben wahrzunehmen, um den Zuwachs an Zuständigkeiten zu verkraften, um entsprechend zu entsprechen? Gewiß mehr, als man im Augenblick zu geben bereit ist. Jenseits der Forderung, Licht und Luft, sprich: Demokratisierung und Transparenz, alle Lebensbereiche, wie man uns immer wieder versichert, durchfluten zu lassen, werden wir zu simplen Objekten reduziert.

Regieren ist der sinnvolle Umgang mit der Macht, anders gesagt: die Macht, Gesetze zu beschließen. Juristisch sind die Nuancen etwas anders, vor allem meint der Begriff mehr als stupide Gesetzesfabrikation. Regleren ist, um mit dem Staatsrechtler Schambeck zu sprechen, „Verfassungskonkretisierung“, während Verwaltung einfach „Gesetzeskonkretisierung“ bedeutet. Natürlich verhalten sich Regieren und Verwalten komplementär, weil Gesetze auf Grund der Verfassung ergehen und diese die Grundlage für jenen Rechtskonkretisierungsprozeß bilden, der — nach Adolf Merkl — den Stufenbau der Rechtsordnung verwirklicht. Auf Personen angewendet, betreibt die Regierung, die den in der Verfassung enthaltenen Staatszielsetzungen verpflichtet ist, ihr Amt zwischen Interessenvertretungen und institutionalisierten Lobbies, zwischen Parteiräson und Staatswohl, zwischen Emotion und Sachzwang, oder einfach auf einer Ebene, die zumindest all diese Faktoren umfaßt.

Als jüngst im Parlament rund um eine dringliche Anfrage, die freilich etwas später durch die Selbstdis-qualiflkation zweier Abgeordneter überschattet wurde, Bundeskanzler

Kreisky den Abgeordneten der Opposition empfahl, sich der Ministeranklage zu bedienen, schärfte er den Blick für ein Rechtsinstitut, das ebenso demokratisch wie parlamentarisch konsequent ist: die Ministerverantwortlichkeit. Nun, der Angehörige des hohen Klerus der Parteikirche, der Herr/die Frau Minister, der/die gemäß dem Minl-sterialsystem den einzelnen Fachbereich — das Ministerium — lenkt, ist in der Tat belangbar. Zuständigkeit und Verantwortlichkeit sind einander bedingte Begriffe, sie gehören zusammen wie Licht und Sonne. Obwohl die Minister von Experten, die allein die vielschichtigen Probleme zu durchschauen in der Lage sind, umgeben und beraten werden, obwohl sich die Verwaltung immer stärker in Richtung Expertokratie entwickelt und in vielen Fällen der Minister nur Sprecher seiner Fachleute isrt, hat letzten Endes der Minister die Verantwortung — und für diese einzustehen. Denn die Auflösung oder Umschichtung herkömmlicher Verwaltungsstrukturen ist (vorerst noch) gesetzlich, verfassungsrechtlich nicht faßbar, ein Zustand, aber nicht Gesetz. „Die Aufgaben der Staatsleitung wachsen also“, so Prof. Schambeck, „über den überschaubaren Bereich der von Ministerverantwortlichkeit gekennzeichneten Regierung hinaus und die Regierung selbst muß immer mehr Verantwortung für Maßnahmen übernehmen, die — sei es unter dem Einfluß der Parteien, sei es dem der Interessenverbände oder von Experten — nicht von ihr initiiert oder aber auch nicht selbst geführt, ständig kontrolliert werden, was für den Fall, daß sie nicht von dem einzelnen Regierungsmitglied verantwortet werden können, diesem nur den

Rücktritt offenläßt.“ Und noch etwas, abseits der Zunahme des Inhaltlichqualitativen Regierungsbereiches: Die Bundesverfassung definiert den Bundeskanzler als primu inter pares. Doch ist Kreisky nicht, realistisch betrachtet, etwas mehr? Vielleicht primus inter omnes? Auch diese Gegebenheit ist ein Indiz, noch eines, für die permanente Umgestaltung behäbiger — wie man gemeiniglich denkt — Institutionen, die uns zu entgleiten drohen.

* Siehe dazu die grundlegende Darstellung: Herbert Schambeck, „Die Ministerveraniwortlichkeit“, Juristische Studiengesellschaft, Karlsruhe, Bd. 101, Verlag C. F. Müller, Karlsruhe 1971.

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