Was es heißt, wenn wir die Wahl haben

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Über Parallelwelten, Illusionen, falsche Erwartungen -und warum sowohl Protestwählen als auch Wahlverweigerung keine Lösung wenn nicht gar gefährlich ist: sechs Thesen über das Wählen.

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Über Parallelwelten, Illusionen, falsche Erwartungen -und warum sowohl Protestwählen als auch Wahlverweigerung keine Lösung wenn nicht gar gefährlich ist: sechs Thesen über das Wählen.

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Wahlen sind ein imaginäres, symbolisches, rituelles Element der Demokratie. Die rechtlichen Mechanismen sind klar, aber ein Blick auf den Gefühlshaushalt und die Entscheidungssituation von Wählerinnen und Wählern lohnt dennoch.

Erstens schaffen Wahlprozesse eine Welt, die nur in den Köpfen existiert. Denn im vorgängigen Berichterstattungs-und Wahlkampfzirkus wird eine symbolische Welt aufgebaut, welche die "wirkliche Wirklichkeit" überlagert (und sich manchmal weit von ihr entfernt). Zudem wird der Wahlakt selbst mit "kreativen" Interpretationen überfrachtet: Was "will" der Wähler mit dieser Stimmenverteilung? Doch er will nichts, und wenn er etwas wollen sollte, befindet er sich im Irrtum. Es handelt sich am Wahlabend bloß um Mengen von Stimmen, und was hinterdrein daraus gemacht wird, ist Sache des weiteren politischen Geschehens. Dass dabei irgendeine "Botschaft" des Wählers gehört wird oder umgesetzt werden soll, ist bloß legitimatorische Vernebelung, zumal es viele verschiedene Wählergruppen mit höchst unterschiedlichen Wünschen und Strategien gibt. In gehobenen Demokratiebeschreibungen ist von einer Wählerschaft die Rede, die ihre Entscheidung als "diskursive Öffentlichkeit" fällt, in gelassener Abwägung von Interessen und Gemeinwohl. Zeitungskommentare sind da schon realitätsnäher: Da ist mehr von "Ängsten" als von "Vernunft" die Rede, und in der Tat ist es eher ein konfuses, gefühliges Geschehen.

Zweitens lebt eine Demokratie nicht nur von Wahlen. Gleich wichtig ist eine beobachtende (auch mediale) Öffentlichkeit zwischen den Wahlen; weiters braucht es ein ausgewogenes institutionelles Gefüge von Handlungsmöglichkeiten, Kontrollen und Beschränkungen, ein System von Rechtsstaatlichkeit und Liberalität, einschließlich der Menschen-und Minderheitenrechte; und letztlich auch ein Minimum an "politischen Tugenden". Demokratie ist nicht Mehrheitsherrschaft, sonst landeten wir schnell in einer "totalitären Demokratie", in der die Mehrheit demokratisch bestimmen kann, Philosophen zu vergiften, Hexen zu verbrennen oder Muslime zu ghettoisieren. Selbst im günstigen Fall kommt immer nur ein halbwegs brauchbares System heraus, das hinter "idealen Modellen" zurückbleibt. Man wählt jedenfalls nicht nur Amtsinhaber oder konkrete Programme, sondern auch eine "politische Kultur": Es wird eine mehr oder minder "anständige" Demokratie.

Rechte und linke Bastler des Imaginären

Drittens verbinden sich mit Wahlprozessen häufig politische Imaginationen von "Kehrtwenden", ja von der Entstehung einer neuen Welt. Es ist das Gordischer-Knoten-Syndrom: die (durch Wahlkämpfe geförderte) Illusion, dass neue Leitfiguren die Probleme mit einem Schlag beseitigen, Sicherheiten wiederherstellen, Dynamik auslösen -jedenfalls die Komplexitäten einer verwirrenden Welt mit kräftiger Hand ordnen. (Doch das ist nicht einmal Obama gelungen.) Die Reaktion von Politikern nach Wahlniederlagen, man müsse den Menschen bloß die Komplexität der Dinge besser erklären, trifft die Sache, aber nicht den Gefühlshaushalt: Wähler wollen die Komplexität nicht erklärt, sondern beseitigt haben -was nun einmal in der spätmodernen Welt nur durch Bluff geschehen kann. Deshalb sind viele allzu willig, sich (halb bewusst) auch im Wahlkampf bluffen zu lassen.

Viertens wird im Wahlgeschehen das Zugehörigkeitsgefühl zu einem imaginären tribalistischen Gebilde verstärkt. Wahlen forcieren Zusammengehörigkeit (das Volk bestimmt souverän über sich selbst), was die Unterscheidung von Identität und Alterität (wir und die anderen) verstärkt. Im Extremfall wird der geschützte Container, hinter dichten Grenzen, versprochen, den es in Wahrheit niemals mehr geben wird. (Freilich gehören auch jene zu den Bastlern des Imaginären, die die Mischung aller Kulturen bloß als fröhliches Stadtteilfest sehen wollen.) Ein alter Mechanismus der Verunsicherungsreduzierung hat schon immer durch Aggression gegen andere funktioniert, mögen es die Juden oder die Muslime, die Aristokraten oder die Kapitalisten sein. Da die liquide, pluralisierte und globalisierte Welt eine Zumutung für das Stammesdenken ist, lässt es sich die (linke oder rechte) Retro-Politik angelegen sein, so zu tun, als ob sie vergangene Lebenssicherheiten zurückgewinnen könnte.

Fünftens gehört in das Szenarium der Imaginationen jene Falle, in die sich Protestwähler freiwillig begeben. Lethargischen politischen Instanzen, die dem Wähler auf die Nerven gehen, dadurch einen Denkzettel zu erteilen, dass man Anti-System-Parteien wählt, deren Handlungsfähigkeit und Programmatik fraglich oder fragwürdig sind, ist eine riskante, selbstgefährdende Strategie. Politischer Protest dieser Art ist eher eine kindliche Attitüde. Der imaginäre Glaube an das, was man durch Wahlen bewirken kann, führt dergestalt auf den Pfad der Selbstzerstörung: Denn die Wiedergewinnung von Sicherheit durch Rückzug aus Europa bedeutet natürlich erst recht die nationale Zerstörung aller Sicherheit. Doch die massiven Konsequenzen der Verblendung stellen sich erst nach etlichen Jahren heraus, wie soeben die Griechen und die Kärntner erleben.

Hände in Unschuld waschen geht nicht

Sechstens kann der Gefühlshaushalt des Wählers zur persönlichen Wahlverweigerung drängen. Die Widerlichkeit des politischen Großbetriebs, die Schwäche der Akteure oder auch nur das Unbehagen gegen Leitfiguren legen es nahe, sich "herauszuhalten": gar nicht wählen zu gehen. Man will an nichts schuld sein, auch nicht am "kleineren Übel": eine saubere persönliche Lösung, die ein "gutes Gefühl" vermittelt. Aber die Schuldlosigkeit ist Illusion, denn jede Wahlenthaltung trägt so wie jede Entscheidung zum Ausgang der Wahl bei. Der Nichtwähler kann bewirken, dass nicht der (aus seiner persönlichen Sicht) drittbeste, sondern der fünftbeste (und für ihn gänzlich indiskutable) Kandidat gewinnt. Sich einzureden, dass man sich persönlich die Hände in Unschuld waschen kann, stellt solche Unschuld nicht her. Man hängt immer mit drinnen -bei den Folgen ohnehin.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz

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