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Überholte Monopolansprüche

Im Jahr 1901 definierte Leo XIII. die christliche Demokratie in seiner Enzyklika „Graves de Camrnuni“ nach Zielen und Ideen: „Sie befaßt sich zunächst, wenn auch nicht ausschließlich, mit den Problemen der arbeitenden Klasse. Sie zielt darauf ab, unter Verbesserung der Lebensbedingungen in den Menschen das Bewußtsein zu erzeugen, daß sie

nicht Tiere, sondern Menschen, nicht Heiden, sondern Christen sind, und so das Streben nach dem einen und notwendigen, dem höchsten Gut, für welches wir geboren sind, zu erleichtern und kräftiger anzuregen.“

Dieser päpstliche Definitionsversuch vor zwei Generationen löst heute eine gewisse Ratlosigkeit aus. Gewiß, es gibt Demokraten, die Christen sind. Was aber ist „christliche Demokratie“? Etwa ein Gegenstück zur „sozialistischen Demokratie“? Und unwillkürlich wird man an die fatale Maxime deutscher Sozialdemokraten der Weimarer Republik erinnert: „Demokratie — das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!“

Versteht man unter Demokratie jene Regierungsform, bei der die Regierung den politischen Willen des Volkes repräsentieren soll, sieht man in der Demokratie die Summe von Spielregeln, die dabei beachtet werden müssen, bedeutet „christliche Demokratie“ ein Dilemma. Müssen nicht die demokratischen Spielregeln in gleichem Maß für Christen und Atheisten, Konservative und Sozialisten gelten? Wenn ja: Wie kann es dann eine christliche oder eine atheistische, eine konservative oder sozialistische Demokratie geben? Demokratie, so zeigt die historische Erfahrung, eignet sich nicht als Mittel zum christlichen (oder sozialistischen oder wer weiß

welchen anderen) Zweck. Demokratie ist kein Vehikel zur weltanschaulichen Endstation. Sonst wird sie zur „Volksdemokratie“.

Demokratie hingegen will die Beherrschten an der Herrschaft der Herrschenden teilnehmen lassen — ein Prozeß, der stets nur in Annäherungswerten verwirklicht werden kann, ob die Herrschenden nun Liberale, Sozialisten — oder Christen sind.

Diese Tatbestände mahnen zur Vorsicht beim Umgang mit dem „hohen C“ in den Firmenschildern der politischen Terminologie. Gibt's

überhaupt ein „christliches Handeln“ an sich? Kann es die christliche Antwort auf Fragen der Budgetpolitik, der Sozialversicherung, der Steuersenkung geben? Die Pastoralkonstitution des Konzils sagt zu dieser Frage, daß die christliche Schau der Dinge oftmals zu einer bestimmten Lösung dränge. Häufig werden aber Gläubige in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen: in solchen Fällen habe niemand das Recht, „seine“ Lösung mit der christlichen Botschaft gleichzusetzen oder die kirchliche Autorität ausschließlich für seine Meinung zu beanspruchen.

Die logische Konsequenz: Das „hohe C“ des Christlichen darf nicht als Monopolanspruch verwendet werden, es soll auch nicht als billiger Stimmenfang dienen. Christliche Parteien in diesem Sinn sind überholt.

Gruppierungen, die sich auch heute christlich nennen, legen ein Bekenntnis zu einem bestimmten Wollen ab — nicht mehr. Sie müssen wissen, daß sie damit keineswegs alle Christen von vornherein auf ihre konkrete Zielsetzung vergattern können.

Diese Entwicklung bedeutet weder eine Bagatellisierung des Politischen durch die Kirche noch eine Zurücksetzung jener Christen, die in der Politik tätig sind. Im Gegenteil: Nie zuvor ist die persönliche Freiheit und Verantwortung des Christen in der Politik größer gewesen als heute. Gleichzeitig hat sich die Funktion des Christen im politischen Feld gewandelt: Begriff er sich früher vor allem als Bollwerk gegen kirchenfeindliche Kräfte, als Sprachrohr der Kirche und deren verlängerter Arm, so sollte er sich heute als „Vortrupp“, als Zeichen der Kirche sehen, der voll Hoffnung mit anderen Menschen am Bau des Staates und der Gesellschaft zusammenarbeitet. So kommt es für den Christen auch in der Politik zu einem Ausbruch aus der Festung der Vergangenheit, zu einem Vorstoß in eine neue Welt.

Die Position des Christen im öffentlichen Leben wird damit schwerer und leichter zugleich.

Sie wird schwerer: Weil der Christ in der Politik viel mehr als früher auf sein Gewissen, auf seine persönliche Verantwortung zurückverwiesen ist; weil er sich nicht mehr mit dem Appell an die Disziplin seiner christlichen Wähler, mit dem Schwingen der Kirchenfahne, begnügen kann; er muß vielmehr die Wahlkämpfe der Zukunft mit der besseren, der einfallsreicheren, mit der überzeugenderen Politik entscheiden.

Sie wird leichter: Weil die Entscheidungen des Christen in der Politik nicht mehr so ohne weiteres

die ganze offizielle Kirche belasten; dadurch wird seine Bewegungsmög-lichkeit größer und das allmähliche Einebnen alter weltanschaulicher Schützengräben läßt ihn bei entsprechender Leistung auch in nichtchristlichen Bevölkerungsteilen politisch wirksam werden.

Es ist erstaunlich, daß die ÖVP, in der so viele Katholiken als führende Mandatare tätig sind, bisher fast ausschließlich die negativen Aspekte dieser Entwicklung beachtet hat. Führende Mandatare der ÖVP klammern sich ängstlich an den traditionellen Begriff der christlichen Partei im herkömmlichen Sinn und jammern über den Wandel der Dinge. In Wirklichkeit sind die Chancen mindestens ebenso groß wie die Gefahren. Die weltanschauliche Entkrampfung der Politik nützt ja nicht nur dem ganzen Staat, dem friedlicheren Zusammen-

leben der Menschen, der Kirche — sie nützt auch den Parteien, die jetzt ihre politischen Trümpfe mit Erfolg ausspielen können, ohne sofort einer totalen ideologischen Konflikt zu entfesseln. Das Wahlergebnis des 6. März und die Zeit seither ist ein Schulbeispiel dafür.

Dr. Withalm hat erst kürzlich einige dieser positiven Perspektiver in einem aufsehenerregenden Interview gewürdigt. Manche seiner Kollegen scheinen sich bei ideologischer Turnübungen um die Preisfrager „Was ist christliche Politik?“, „Was ist eine christlichft Partei?“ wohlei

zu fühlen. Sie übersehen indes, was das A und O zeitgemäßer christlicher Betätigung in der Politik darstellt: Die systematische Heranziehung fähiger und überzeugter Christen auf der unteren und mittleren politischen Ebene, wo (auch in Gemeinden und Ländern!) fast nur noch farblose Managertypen und Appa-ratschiks durchgeboxt werden, während Spitzenfunktionäre in christlich-programmatischen Erklärungen schwelgen.

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