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Defferre und“,neuer Sozialismus

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Noch ist es zu früh, das Ergebnis des sozialistischen Parteikongresses in Clichy, in dem Gaston Defferre ermächtigt wurde, sein Projekt der „Demokratisch-sozialistischen Fe-deration“ durch Verhandlungen mit den Radikalsozialen und katholischen Volksrepublikanern weiter voranzutreiben, als einen Sieg der oppositionellen Gruppierung gegen die Gaullisten zu bezeichnen. Denn unmittelbar nach / --chluß des dreitägigen Treffens der 450 Delegierten der SFIO (Section francaise de l'Internationale ouvriere) meldeten

die Volksrepublikaner gewisse Bedenken an, die im Rahmen neuer Verhandlungen mit Defferre erörtert werden sollen.

Es ist offensichtlich, daß die MRP nach Äußerung ihrer prinzipiellen Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Sozialisten auf der Basis der Federation — immer mit dem Blick auf die im Dezember stattfindende Wahl des Staatspräsidenten — plötzlich den Bruch mit den Gemäßigten und Rechten befürchten zu müssen glaubt.

Am meisten scheinen die Volksrepublikaner durch die Erwähnung der laizistischen Frage im Schlußkommunique des sozialistischen Kongresses irritiert, obwohl Gaston Defferre den abschwächenden Begriff der „Suggestion“ — anstatt von „Forderungen“ oder „Wünschen“ zu sprechen — durchzudrücken vermochte. Wenn Generalsekretär Joseph Fontamt (MRP) in einer längeren Abhandlung im Parteiorgan „Forces nouvelles“ den Sozialisten vorwirft, daß sie vor allem eine „Regruppierung der sozialistischen Familie“ als eine „breite Federation aller Demokraten“ im Auge hätten, so geschieht dies wohl in erster Linie im Hinblick auf die Debatten des Kongresses und weniger auf die nach langem Ringen gefaßte Entscheidung, die im Rahmen der Möglichkeiten den Volksrepublikanern entgegenzukommen sucht. Dies gilt vor allem für die ausdrückliche

Feststellung, daß den Kommunisten eine besondere Verantwortung zufällt, die aus Erwägungen der Außenpolitik ein gewisses Arrangement mit dem gaullistischen Regime suchten.

Verfrühter Optimismus

Der Bürgermeister von Marseille hat in der Euphorie seines Sieges innerhalb der eigenen Parteirahmen erklärt: „Wir werden uns noch lange an diesen Kongreß erinnern. Wie auch unsere inneren Gegensätze geartet sein mögen — wir haben uns

zu einem Wege entschlossen, der uns nicht allein erlauben wird, den Gaullismus zu besiegen, sondern auch die Demokratie, die Wirksamkeit und die Stabilität in unserem Lande zu sichern...“ Dieser Optimismus scheint uns entschieden verfrüht, da selbst ein Zustandekommen der geplanten Federation keinen Einfluß auf die Wählermassen bei den Präsidentenwahlen zu haben braucht. Freilich wäre alles leichter, falls de Gaulle nicht selbst kandidieren sollte; doch er wird seine Entscheidung erst im Oktober bekanntgeben, so daß einer neuen Oppositionsgruppierung nur wenig Zeit bleibt, sich auf die realen politischen Fakten einzustellen.

Soweit sich die Dinge heute übersehen lassen, kann man sagen, daß der Wahlkampf des Dezember 1965 nur den Charakter eines interessanten und aufschlußreichen Versuchs haben dürfte. Die eigentliche Machtprobe dürfte erst bei den Legislaturwahlen von 1967 erfolgen, falls die Federation der Mitte und der Linken dann noch bestehen sollte. In jedem Falle wird es neben den Gaullisten und einer etwaigen Federation der gemäßigten Linken eine dritte Kraft der Kommunisten geben, die sich mit dem Gedanken der Aufstellung eines eigenen Präsidentschaftskandidaten tragen, und eine vierte der Rechtsradikalen, die sich um den Kandidaten Tixier-Vignancour

gruppieren.

Parteien kann man nicht addieren

Alle diese Einschränkungen sollen jedoch den Erfolg Gaston Defferres nicht einschränken. Sein Vorstoß ist von der logischen Überlegung getragen, daß die neuzeitlichen politischen Bedingungen eine Formation erfordern, die die parlamentarische Mehrheit besitzt und somit eine stabile Regierung aufzustellen in der Lage ist. Er ist sich aber auch dessen bewußt, daß dieses Ziel nicht durch eine bloße Addition von Parteien Zustandekommen kann, sondern daß die einzelnen Mitglieder der Federation sich über einige, für alle ver-

bindliche Grundprinzipien einig sein müßten.

Defferre ist recht optimistisch zum Parteikongreß in Clichy gegangen, da er sich darüber im klaren war, daß gewichtige Gründe seiner These zum Siege verhelfen würden: Erstens der Druck der Meinung innerhalb der SFIO, die in ihrer Mehrheit an der Kandidatur Defferres für das Elysee festhält; Zweitens: Die stetige Abnahme der sozialistischen Wählerzahl — sie betrug 1946: 4,188.000, 1956: 3,247.000 und 1962: 2,319.000 Stimmen. Auch

die bewußtesten „Parteipatrioten“ und alten Doktrinäre konnten gegenüber der Binsenweisheit ihre Augen nicht verschließen, daß allein eine tiefgreifende Neuerung die Partei vor dem langsamen Verfall retten könnte.

Als sich der SFIO-Kongreß über die Zweckmäßigkeit einer nächtlichen Konklave einigte, in der vierzehn „Defferristen“, dreizehn „Molletisten“ und vier Vermittler zwischen den beiden Tendenzen eine Schlußresolution über die geplante Federation ausarbeiten sollten, war der Sieg des rührigen Bürgermeisters von Marseille so gut wie sicher. Defferres Vorschlag, daß ein nationaler Parteirat am 18. und 19. Juli das Verhandlungsergebnis — es wird ein Übereinkommen zwecks gemeinsamer Aktion mit den Radikalen, Volksrepublikanern und den politischen Klubs angestrebt — ratifizieren soll, wurde schließlich von den Kongreßteilnehmern, die insgesamt 2900 Mandate vertraten, einstimmig, bei einer Stimmenthaltung, angenommen.

Der Gegensatz zwischen den beiden Tendenzen — Defferre und Guy Mollet — erschien zu Beginn unüberbrückbar. Doch erwies sich, wie dies schon oft bei Parteikongressen der SFIO, in denen unterschiedliche Anschauungen über politische und taktische Fragen aufeinandergeprallt waren, der Fall war, das Streitobjekt als ein mehr rhetorisches denn als faktisches Element. Die Delegierten zollten sowohl den Thesen des Präsidentschaftskandidaten als auch denen ihres Generalsekretärs

mit der gleichen Wärme Beifall. Die erfahrenen Beobachter sozialistischer Parteikongresse kennen diese Tradition leidenschaftlicher Wortkämpfe zwischen den markantesten Exponenten des Führungsgremiums, die immer — praktisch seit dem Weihnachtskongreß von 1920 in Tours, der das große Schisma zwischen Sozialisten und Kommunisten brachte — mit einer nahezu theatralen Versöhnungsszene zu enden pflegen. Das war selbst am Vorabend des zweiten Weltkriegs der Fall, als Leon Blum einen bewaffneten Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus empfahl, während Paul Faure dem integralen Pazifismus das Wort redete.

Angst vor der eigenen Schwäche

Beim Kongreß in Clichy feierten die Delegierten in Gaston Defferre den Neuerer, der mit der „Demokratisch-sozialistischen Federation“ dem französischen Sozialismus ein gewandeltes Gesicht und neue politische Impulse geben will, und in Guy Mollet den Fackelträger der Parteiideologie und ihrer revolutionären Aspekte. Doch der vorwärtsstürmende Demagoge, der nicht die Verwaltung der Gesellschaft, sondern ihre Veränderung von Grund auf im Auge hat, erwies sich im Endeffekt als der Einflußreichere. Wenn der Bürgermeister von Lille, Augustin Laurent, seinem Kollegen Defferre zurief, daß die Sozialisten keinen Geschmack am Abenteuer hätten, dem Gegenspieler de Gaulles autoritäre Tendenzen vorwarf und die Befürchtung äußerte, daß die Zusammenarbeit mit den Konservativen zu einer Druckanwendung auf die SFIO führen könnte, so wirkte dies wenig überzeugend. Es war — man konnte es deutlich spüren — die Angst vor der eigenen Schwäche.

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