Im Machtzentrum des russischen Bären

Werbung
Werbung
Werbung

Napoleon, Hitler, NATO-Osterweiterung, Ukraine-Krise und andere Bedrohungen aus dem Westen haben im russischen Bewusstsein tiefe Spuren hinterlassen. Russlands Geschichte wirft einen bleiernen Schatten auf die jüngsten Beziehungen mit dem Westen, von der sich auch die jetzige Elite nicht lösen wird können. Andererseits treten innenpolitische Probleme zutage, die den Fokus russischer Herrscher in nächster Zeit verändern werden. Wie denken die Russen über sich, den Westen, China und die Welt? Und welche Führung folgt nach Wladimir Putin?

Zusammenkünfte mit der Crème de la Crème der russischen Polit-Elite geben einen umfangreichen Aufschluss über ihre Denkweise. Auf die provokante These, dass Russland keine außenpolitische Strategie habe und statt zu agieren nur reagiere, übt man sich in Teilen russischer Machtetagen durchaus in Selbstreflexion. "Diese Kritik ist nicht unrichtig. Wir könnten in langfristiger, außenpolitischer Strategie und im Bereich der Soft Power mehr tun als bisher", sagt ein hoher Amtsträger aus dem russischen Föderationsrat. Selbstkritischere Worte wird man von einem russischen Amtsinhaber nicht zu hören bekommen. Ein anderer, höchst einflussreicher High Official fasst Russlands Außenpolitik kürzer zusammen: "Unsere Strategie ist die, wie bei jedem anderen: Taktik." In den Konversationen mit der außenpolitischen Klasse wird wie üblich Russlands Stärke, die Bedrohung und die Verlogenheit des Westens betont. Also nichts Neues. Überraschend ist allerdings die nachkommende Generation im außenpolitischen Metier. Die tickt in ihren Einstellungen nicht viel anders als die Alten.

Abwendung vom Westen

Bei diesen Meetings sitzen auf der einen Seite europäische Vertreter, ihnen gegenüber die russischen Pendants. Man geht die klassischen Themen durch. Die NATO-Erweiterung, die Ukraine, China und die russische Parteienfinanzierung in Europa. Sie beklagen, dass russische Interessen verletzt werden, würden aber, wenn sie die Stärke dazu hätten, dasselbe tun wie der Westen, um ihren Einfluss zu erweitern. Die Diskussion schaukelt sich mit Vorwürfen hoch, jeder macht den anderen für Konflikte verantwortlich. Man vertraut einander nicht. Beide Seiten denken, dass der jeweils andere ihn bei der erstbesten Gelegenheit übers Ohr hauen wird. Es gibt keinerlei Bemühungen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören, sich abzustimmen, auf Gebieten zusammenzuarbeiten, wo es rational erscheint, und einander aus dem Blickwinkel der jeweiligen Geschichte verstehen zu lernen. Man erlebt das völlige Gegenteil vom Zusammenraufen mit dem Westen. Die Gespräche zeigen, dass Russland seinen Fokus nach China verschiebt. "Wir werden unsere außenpolitische Zusammenarbeit verstärkt mit China forcieren -und seien Sie sicher, dass wir in solcher Situation glasklar auf Seiten Chinas stehen", antwortet ein russischer Berater auf meine Frage, ob man bei einem Konflikt in Asien dem Westen oder China zur Seite stünde. Dass Russland auf Seiten Europas mehr Mitspracherecht genösse, zumal die Interdependenz mit China um ein Vielfaches größer ist, weist man in uneinsichtiger Manier zurück. Auch den Europäern fehlt der Weitblick, Russland im 21. Jahrhundert für sich zu gewinnen.

Die Konversationen mit den russischen außenpolitischen Denkern bestätigen jedenfalls den Eindruck, dass die Erneuerung der Beziehungen mit dem Westen nicht von ihnen ausgehen wird. So viel ist sicher.

Dafür sind die Gräben zwischen den gegenwärtigen Akteuren zu groß.

Die ökonomischen Berater und Denker sind weniger von Emotionen als von Zahlen getrieben. Glasklar ist, dass Russland sein wirtschaftliches Potential nicht ausschöpft. Auf die freche Frage, wie Russland seine Außenpolitik finanziell erhalten will, wenn es ökonomisch mit den anderen nicht mithalten kann, herrscht bei den jungen Ökonomen Fantasielosigkeit. Hauptsache Stabilität. Kein Wort verlor man darüber, wie man eine stärkere Diversifizierung, Technologisierung und Rechtssicherheit der Volkswirtschaft garantieren will. Geschweige denn eine Vorstellung, wie es in zehn Jahren ökonomisch aussehen soll. Das wird sich im 21. Jahrhundert noch rächen, zumal die russische Bevölkerung sich damit nicht zufrieden gibt.

Bröckelnder Gesellschaftsvertrag

Die jüngeren russischen Experten für Demografie und Gesellschaft sind erfrischend kritisch. Sie stellen ihrer Regierung ein verheerendes Zeugnis aus. Die Lebenserwartung liegt wie das jüngst verabschiedete Pensionsantrittsalter für Männer bei 65 Jahren: Viele Menschen werden also nicht in den Genuss einer Pension kommen. Die Geburtenraten gleichen gerade einmal die Sterbefälle aus. Die besonders Talentierten verlassen das Land. Der Korruption ist man nicht Herr geworden. Der Wohlstand wächst nicht schnell genug. Diese Tatsachen lösen Unzufriedenheit aus. "Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich populistische Bewegungen in Russland formieren, die ein politisches Erdbeben auslösen. Ein Zeichen für die Veränderung des politischen Systems waren die letzten Gouverneurswahlen. Vier Kandidaten von Putin haben verloren, und andere, die aktiv Kontakt mit den Wählern suchten, haben gewonnen", so ein Forscher eines russischen Thinktanks.

Es gibt in Russland eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen Politik und Einwohnern. Die Bevölkerung überträgt ihrem Führungspersonal die Macht, dafür will sie Stabilität. Das war bei den älteren Generationen so. Die Jungen, die den Kollaps der Sowjetunion nicht erlebt haben, werden diesen Gesellschaftsvertrag definitiv nachverhandeln wollen. Die jüngsten Proteste bestätigen das. Bei den gegenwärtigen russischen Amtsträgern hat man diese Tatsachen registriert, die Frage ist lediglich, wann die Nachverhandlung passieren wird. Inzwischen macht sich eine jüngere Generation auf den Weg an die Macht.

Deren Protagonisten treten im westlichen Stil auf, sind aber nicht pro-westlich. Sie haben auf den elitärsten Universitäten der Welt studiert und wirken wie McKinsey-Berater, nicht wie Sowjet-Bürokraten. Und das Wichtigste: diese handverlesenen jungen Technokraten wurden von Putin selbst an regionale Schalthebel der Macht berufen. Neun junge Politiker dieses Typs hat er zu kommunalen Gouverneuren bestellt. Man gewinnt den Eindruck, dass Putin an keinen einzelnen Nachfolger, sondern an eine nachfolgende Generation glaubt: seine Generation, die Putin-Generation.

Putins Erben von seinen Gnaden

Sie sind loyal zur Führung, haben keinerlei politische Erfahrung, kennen aber auch die Mängel des Landes. Sie sehen sich als Problemlöser und nicht als politische Visionäre. Sie wissen, dass sich ihre Legitimität nicht mehr aus Stabilität, sondern aus dem Versprechen von Fortschritt schöpft. Sollten sie die Spitze der Macht erklimmen, werden sie den Russen sozialen Fortschritt im Gegenzug zur Macht anbieten. Doch so weit müsste es erst einmal kommen. Und ohne Putins Segen wird das nicht passieren. Dafür sind sie zu unerfahren und abhängig. Da das ganze politische System auf Putins herrschenden Kreis zugeschnitten ist, wird er selbst nach seinem Rücktritt als Präsident im Hintergrund tätig sein müssen, damit das System nicht kollabiert. Keiner dieser Jungen ist auch nur ansatzweise dazu imstande, ohne Putins Willen sein Nachfolger zu werden.

Allerdings wird auch mit diesen jungen Technokraten Russland sich nicht in eine westliche Demokratie transformieren. Sie vertrauen der Technologie, um die Bevölkerung in Schach zu halten, und nicht der Politik als solches -Social Screening aus China findet man hier durchaus interessant. Vor allem wollen sie Russland zusätzlich zur militärischen Stärke auch wieder wirtschaftlich blühen sehen. Man konnte diesen Leuten nicht viel entlocken, was sie aber in aller Selbstverständlichkeit von sich geben, ist bezeichnend: "Ich bin ein Technokrat und kein Politiker. Womöglich bin ich aber in der Zwischenzeit zum Politiker geworden. Glauben tu ich an nichts, nur an die Ökonomie. Werte sind zwar gut, die Wirtschaft und der damit verbundene größere Wohlstand ist aber besser."

Gerade wenn man annimmt, dass man mit dem russischen Bären nicht mehr rechnen muss, meldet er sich mit Paukenschlägen zurück.

Der Autor ist Publizist und war kürzlich im Rahmen einer Thinktank-Delegationsreise in Moskau. Die Gespräche dort fanden unter der Chatham House Rule (Verpflichtung zur Nichtnennung von Gesprächspartnern) statt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung