Neue Regierung in Polen: Das ideologische Erdbeben
Weniger Religion in der Schule, politische Distanz zur Amtskirche, ein liberaleres Abtreibungsgesetz, die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Ehen: Polens neue Mitte-Regierung setzt auf eine weltanschauliche Wende.
Weniger Religion in der Schule, politische Distanz zur Amtskirche, ein liberaleres Abtreibungsgesetz, die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Ehen: Polens neue Mitte-Regierung setzt auf eine weltanschauliche Wende.
Es handelt sich zwar nur um eine Unterrichtsstunde, doch sie hat Symbolkraft. Polens neue Bildungsministerin, Barbara Nowacka von der größten Regierungspartei, der Bürgerkoalition (KO), hat als eine der ersten Amtshandlungen angekündigt, den Religionsunterricht an staatlichen Schulen alsbald von zwei Einheiten auf eine zu reduzieren. Nur in Kommunen, die das selbst entscheiden und finanzieren, könnten weiterhin zwei Stunden angeboten werden. Der Religionsunterricht ist seit Jahrzehnten Streitthema, doch bis vor Kurzem war es nur die Linke, ebenfalls Koalitionär in der neuen Regierung von Donald Tusk, die eine Abschaffung des Unterrichts forderte. Doch die Beteiligung an dem freiwilligen Fach sinkt seit Jahren massiv, zeitgleich hat die katholische Amtskirche massiv an Ansehen verloren. Laut Umfragen wünschen sich nur noch etwa 30 Prozent katholischen Religionsunterricht an der Schule, 60 Prozent wollen ihn lieber in Kirchengemeinden organisiert sehen. Das Episkopat reagierte auf Nowackas Vorstoß barsch – und realitätsfern. „Der Wunsch der Mehrheit der Eltern, Katholiken, der Mehrheit der Gesellschaft ist, dass es Religion in der Schule gibt“, heißt es in einer Stellungnahme.
Pädophiliefälle unaufgearbeitet
Auch wenn es dazu noch Gespräche geben soll: Der Schritt scheint beschlossene Sache – und ist kein Ausreißer. Denn Polens neue Mitte-Regierung will ideologisch so weit von der Amtskirche entfernt regieren wie noch keine zuvor seit 1989. Regierungschef Tusk hat bereits angekündigt, einen noch von den Kommunisten im Jahr 1950 eingerichteten, staatlichen Sozialversicherungsfonds für Geistliche aufzulösen. Statt seiner sollen die Mittel laut Plänen künftig über Steuerabschreibungen fließen, die jeder Steuerzahler aber separat deklarieren müsste. Kirchenkritiker hoffen, so das wahre Ausmaß der Kirchenbindung kennenzulernen – laut Kirchenstatistiken nehmen nur noch 29 Prozent der Menschen an den Sonntagsmessen teil (2018: 38 Prozent). Das verwundert kaum. Denn die Hierarchen haben in den vergangenen acht Jahren nicht nur durch publik gewordene, aber kaum aufgearbeitete Pädophiliefälle den Widerwillen vieler Polen auf sich gezogen. Auch und vor allem die teils nahezu symbiotische Beziehung mit der abgewählten, rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat ihr letztlich mehr geschadet denn genützt. Zwar hat die PiS Ende 2020 den langjährigen Herzenswunsch des Episkopats erfüllt und über das PiS-hörige Verfassungsgericht das schon bis dahin restriktive Abtreibungsrecht nochmals verschärfen lassen. Doch weil dies der PiS, wie Studien belegen, nachhaltig schadete, hat sich die Partei von Jarosław Kaczyński bereits im Wahlkampf kaum mehr im Umfeld der Kirchenoberen gezeigt.
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