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Religion und Demokratie: „Religion matters“

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Fördert Religion die in die Krise gekommene Demokratie oder behindert sie diese? Antworten darauf sind nicht eindeutig. Die Frage muss dennoch gestellt bleiben.

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Fördert Religion die in die Krise gekommene Demokratie oder behindert sie diese? Antworten darauf sind nicht eindeutig. Die Frage muss dennoch gestellt bleiben.

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Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“ Mit diesem – für einen Soziologen und Politikwissenschaftler ungewöhnlich poetischen – Satz brachte Hartmut Rosa in seiner Rede beim Würzburger Diözesanempfang 2022 seine Überzeugung auf den Punkt: Demokratie braucht Religion. Denn insbesondere die Kirchen sind für ihn Institutionen, die in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung „Resonanz“ fördern können. Mit ihren Räumen, Ritualen, Gesten und Gebetspraktiken können diese eine Weltbeziehung fördern, die von Verbundenheit geprägt ist und Menschen dabei unterstützt, sich anrufen, berühren zu lassen und als selbstwirksam zu erleben. Ohne solche Resonanzbeziehungen ist die Demokratie vom Scheitern bedroht, da auch diese auf das Zuhören und Affiziert-Werden angewiesen ist.

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Dem ist auch theologisch zuzustimmen. Mit ihren liturgischen, rituellen und spirituellen Traditionen können die Kirchen einen wesentlichen Beitrag zu dem leisten, was man einst „Herzensbildung“ genannt hat. Zu ergänzen wären noch die individual- und sozialethischen Traditionen und die Beiträge politischer Ethik der Kirchen, die konkrete Optionen für gesellschaftliche Krisen erarbeiten. Aus dieser Sicht sind der Einbruch der Mitgliederzahlen der Kirchen im deutschsprachigen Raum, belegt in der Kirchenmitgliedschaftsstudie 2023 der Evangelischen Kirche, sowie die europaweite Erosion des Glaubens an Gott auch eine demokratiepolitische Katastrophe. So sind allein in Österreich laut der Covid 19-Sonderedition der Europäischen Wertestudie für Österreich innerhalb von drei Jahren alle religiösen Indikatoren signifikant eingebrochen, u.a. der Glaube an Gott von 73 Prozent (2018) auf 54 Prozent (2021).

Ein ambivalentes Bild

Gibt es angesichts der Thesen von Hartmut Rosa Grund zur Freude? Lassen sie sich auch empirisch bestätigen? Im „Netzwerk Interdisziplinäre Werteforschung“ der Universität Wien haben wir in der Europäischen Wertestudie den Einfluss religiöser Einstellungen und Praktiken auf demokratiepolitisch relevante Einstellungen erforscht. Die Ergebnisse zeigen ein ambivalentes Bild. Die Thesen Rosas erweisen sich als idealistisch und normativ, sind aber empirisch europaweit so nicht gedeckt. So belegt z.B. der Soziologe Gert Pickel die problematische Wirkung auf die demokratische politische Kultur. Personen, die sich selbst als „religiös“ bezeichnen – und dies sind in der EWS mehrheitlich Menschen, die sich einer christlichen Konfession zugehörig wissen – wünschen sich signifikant häufiger einen „starken Führer anstelle eines Parlaments“, insbesondere dann, wenn Gott für sie besonders wichtig im Leben ist. Auch schätzen sie die Demokratie im je eigenen Land signifikant negativer ein.

Values – Politics – Religion Cover - © Springer
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Open Access Publikation

Values – Politics – Religion

The European Values Study
Von Regina Polak und Patrick Rohs,
Critical Explorations Volume 26.
Springer, Cham. Open Access 2023.
https://doi.org/10.1007/978-3-031-31364-6

Die „Brücke“ zwischen Religiosität und demokratischen Einstellungen bilden Vorurteile, d.h. die Einstellung zu kulturell, sozial und religiös Anderen. Hier zeigen sich zwei Typen von religiösen Menschen: jene, die exklusivistisch denken, d.h. die eigene Religion für die einzig wahre halten, sowie jene, die pluralistisch-offen denken. Während erstere Juden (in Ö: 8 Prozent) oder Muslime (in Ö: 22 Prozent) nicht als Nachbarn wünschen oder gleichgeschlechtliche Paare als gute Eltern ablehnen (in Ö: 46 Prozent), sind letztere diesbezüglich aufgeschlossener. Die Anerkennung von Pluralität ist aber eines der zentralen Merkmale liberaler Demokratien.

Religion war nie eo ipso „gut“

Die empirisch vorfindbare Religiosität ist also ambivalent. Dies ist weder historisch noch theologisch überraschend. „Religion“ als soziopolitische Wirklichkeit, als praktizierte Lebensform war noch niemals eo ipso „gut“, also dem Ideal entsprechend. Interessant ist in dieser Hinsicht der Befund der Zentralität von Praxis. Personen, die aktive Mitglieder in einer religiösen Organisation sind und sich sozial engagieren, zeigen signifikant höhere Zustimmungswerte zu demokratiepolitisch entscheidenden Faktoren.

Sie haben deutlich höheres Vertrauen in die Demokratie, lehnen einen „starken Führer“ häufiger ab, schätzen die Demokratie im eigenen Land positiver ein, sind weniger juden- und muslimfeindlich bzw. homophob und befürworten kulturell und religiös plurale Gesellschaften. „Religion matters“: Religiosität ist also ein demokratiepolitisch relevanter Faktor. Aber ihre Wirkung kann der Demokratie auch schaden. Dies sieht man v.a. in Osteuropäischen Ländern, wo – anders als im Westen – eine aktive Kirchenmitgliedschaft sogar signifikant häufig mit antidemokratischen Werten wie z.B. Nationalismus verbunden ist.

Wer also die demokratieförderliche Dimension von Religion stärken möchte, muss sich (selbst)kritisch die Frage stellen: Welche Religiosität soll gefördert werden? Die in Österreich weit verbreitete Form eines Kulturchristentums, das die konfessionelle Zugehörigkeit als „Identitäts-Marker“ zur Ab- und Ausgrenzung Anderer benützt, braucht die Demokratie nicht. Eine solche wird aber seit Jahren im politischen Diskurs gebetsmühlenartig propagiert: u.a. in einer dichotomen Gegenüberstellung zwischen „unseren, christlichen“ und den als inkompatibel behaupteten „migrantischen, islamischen“ Werten der „Anderen“. Auch diese Dichotomie wird übrigens durch unsere Studien nicht belegt. Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort erklären antidemokratische Einstellungen bei religiösen Personen präziser als die konkrete Religionszugehörigkeit.

Personen, die sich selbst als ‚religiös‘ bezeichnen, wünschen sich häufiger einen ‚starken Führer anstelle eines Parlaments‘.

Die Kirchenleitung, Pastoralassistent(inn)en, Religionslehrer(innen) sollten sich also hinkünftig mit den ambivalenten Auswirkungen von Religiosität vertieft auseinandersetzen. Religiöser Bildung kommt dabei eine zentrale Rolle zu; ebenso der Reflexion, welche Formen von Religiosität, welche theologischen Ideen, welche pastorale, spirituelle, liturgische Praxis Anknüpfungspunkte für demokratische oder eben antidemokratische Einstellungen bieten. Religiosität kann Resonanz fördern, aber eben auch Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit.

Die Zusammenhänge von Religiosität und Demokratie sind freilich komplexer als hier dargestellt. Zwischen den einzelnen Ländern Europas gibt es deutliche Unterschiede. Auch soziodemografische Faktoren wirken sich aus: Religiöse Menschen weisen z.B. dann eher demokratiegefährdende Einstellungen auf, wenn sie männlich und älter sind, im ruralen Raum leben oder ein geringes Einkommen haben.

Der Frage, was nun angesichts der Befunde in Politik, Schule, Wirtschaft, Wissenschaft, Religionsunterricht, Religionsgemeinschaften etc. getan werden kann, geht am 28. November 2023 die in Kooperation mit der FURCHE veranstaltete Konferenz „Krise der Demokratie – Rolle der Religion“ in der Volkshalle des Wiener Rathauses nach. Multiplikator(inn)en aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen werden sich dabei überlegen, wie Religion nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung der Krise der Demokratie sein kann. Auch letzteres belegen – nicht nur unsere – Daten.

Denn Hartmut Rosa ist zuzustimmen: Demokratie braucht Religion. Aber um deren Potenzial freizulegen, bedarf es eines breiten, inter- und transdisziplinären und demokratischen Diskurses all jener, denen dies ein Anliegen ist.

Die Autorin ist Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Kath.-Theol. Fakultät der Uni Wien.

Tagung

Krise der Demokratie - Rolle der Religion

Di 28.11., 10–19.45,
Rathaus Wien, Volkshalle
Informationen

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