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Signore X im Quirinal

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Der eigene Willensakt des italienischen Staatspräsidenten Antonio Segni, auf sein Amt zu verzichten, hat eine unschöne Prozedur vermieden, die dem „president gentil- homme“ eine unverdiente Kränkung und vielleicht gefährliche Gemütsbewegung gebracht hätte. Der rechtsseitig gelähmte und sprechunfähige Mann hätte am 7. Dezember, vier Monate nach dem erlittenen Schlagunfall, einer amtlichen Untersuchung seines Gesundheitszustandes unterzogen werden sollen, worauf der Ärztekonsult, wie die Dinge lagen, seine Unfähigkeit festgestellt hätte, die Pflichten des Staatsoberhaupts weiter auszuüben.

Die freiwillige Verzichtserklärung hat der Regierung auch erspart, einen mit Polemiken und politischen Fußangeln jeder Art bewehrten Weg einzuschlagen. Die italienische Verfassung weist eine merkwürdige Lücke auf. Sie sieht natürlich den Fall vor, daß ein Staatspräsident vorzeitig sein Amt verläßt, aber sie schweigt sich darüber aus, wie der Übergang zur Besitzergreifung des

Präsidentenstuhles durch das neugewählte Staatsoberhaupt zu erfolgen hat. Hier fand die Regierung Moro prozedurales und auch politisches Neuland vor. Während die linksextreme Opposition sofort die Gelegenheit wahrzunehmen suchte, der Regierung Initiative und Entscheidungen in einem für das Staatsleben vitalen Augenblick aus den Händen zu nehmen. Ihrer These, daß das Parlament'als Wähler des Staatspräsidenten auch durch seine beiden Vorsitzenden den Vorgang der Nachfolge bestimmt, stand die andere gegenüber, daß die direkten Beziehungen zwischen Parlament und Präsidenten mit dem Wahlakt aufhören — von einigen Höflichkeitsvisiten abgesehen — und allein zwischen Regierung und Präsidentschaft aufrecht bleiben. Die Sache ist mehr als bloßer Formalismus, sie kann in gewissen Augenblicken von entscheidender Bedeutung werden, und der Regierung lag daran, keinen Präzedenzfall zu schaffen. Moro bewegte sich also mit großer Vorsicht.

Die Präsidentschaft Segnis hat kurz gewährt: Am 6. Mai 1962 ist er im neunten Wahlgang gewählt worden. Man hat ihm also den Weg in den Quirinalpalast nicht leicht gemacht. Die Christlichdemokraten waren uneins, ein Teil hatte gehofft, Fanfani durchzubringen; die Laizistischen setzten auf Saragat, den Führer der Sozialdemokraten. Erst als die Anhänger des Ministerpräsidenten Fanfani nachgaben und ein Wählerblock der DC und der Rechtsparteien zustande kam, fand Segni genügend Stimmen für sich in der Urne. So ist es gekommen, daß ein Mann, der zwar jeder sozialromantischen Demagogie abhold, aber treibendes Element sozialer Reformen gewesen war, als Exponent der Rechten abgestempelt in den Quirinalpalast eingezogen ist. Im vergangenen Frühling hat ihn sogar eine angesehene Zeitung des Auslandes als möglichen Mittelpunkt eines Rechtsputsches ins Auge gefaßt. Man kann darin eine Entartung des Ansehens erblicken, das Segni besonders in einer Richtung genossen hat: unbeugsamer Hüter der demokratisehen Struktur des Staates gegen die kommunistische Unterwanderung zu sein.

Um den Staatspräsidenten kreisen die Ereignisse

Die Democrazia Christiana, der nach wie vor die Hauptverantwortung für das Staatsleben zufällt, will keinen anderen Politiker als einen solchen auf dem Präsidentenstuhl sehen. Zwar ist Italien keine „repubblica presidenziale“ und die von der Verfassung dem Staatsoberhaupt eingeräumten Vollmachten sind eng begrenzt, aber in außerordentlichen Zeiten (und wer würde vorauszusagen wagen, daß solche nicht kommen können) wird der Staatspräsident doch zum Pol, um den die Ereignisse Kreisen. Weniger umschrieben: Man will einen Mann, von dem man sicher ist, daß er die moralische Festigkeit besitzt und extremistischen Drohungen — besonders der Kommunisten, weil sie die gefährlicheren sind — ohne schwankend zu werden und ohne auf persönliche Rücksichten zu achten und ohne ideologischen Träumereien entgegentritt. Das bedeutet, daß die Christliche Demokratie zunächst keinen anderen als einen christlichen Demokraten in den Quirinal bringen will. Ein Vertreter des Laizismus, und würde es sich auch um einen so angesehenen Politiker wie Giuseppe Saragat handeln, kommt für sie nicht in Frage. Weiters ist sie entschlossen, solche Kandidaten auszuschalten, die in ihren Augen aus dem einen oder anderen Grunde als „unsichere Kantonisten“ gelten, wie Amintore Fanfani, von dem man nie weiß, zu welchen Bündnissen ihn sein persönlicher Ehrgeiz treibt, oder der jetzt die Funktionen des Staatsoberhauptes ausübende einstige Senatspräsident Cesare Merzagora. Diesem trägt man einige politische Extravaganzen nach, in erster Linie den von ihm ausgegangenen erstaunlichen Vermittlungsvorschlag mitten in der gefährlichen Krise unter der Regierung Fernando Tambroni, als sich kommunistische Trupps, von denen man nicht wußte, ob es sich noch um Demonstranten oder schon um Aufständische handelte, und die Polizei auf Straßen und Plätzen Italiens gegenüberstanden: Merzagora schlug einen „Waffenstillstand“ oder „Burgfrieden“ vor, während dem die Polizei kaserniert bleiben sollte. Als ob es sich um zwei Gegner handelte, die vor der Verfassung auf gleicher Ebene stehen. Merzagora hat seither viele Sympathien bei der DC verloren und manche unter den Kommunisten gewonnen.

Aber die DC gleicht als Massenpartei einem Kontinent, der seine Einheit niemals gefunden hat. Auch zu der Präsidentenwahl dieser Woche schritt sie, ohne sich bis zur letzten Stunde über einen Kandidaten einig geworden zu sein. Denn die offizielle Nominierung besagt wenig. 1955 war gemäß Parteibeschluß Cesare Merzagora offizieller Kandidat, gewählt dagegen wurde Giovanni Gronchi, zwar gegen den Willen der Partei, weil sich eine Fronde mit den extremen Flügeln im Parlament, mit den Kommunisten und den Neofaschisten, verständigt hatte. Als Kandidaten würden der Mehrheit in der DC Männer wie der aus Ligurien stammende Innenminister Emilio Paolo Taviani oder der ehemalige Kammerpräsident Giovanni Leone am meisten liegen. Jener wäre etwas farbloser, aber den Koalitionspartnern wahrscheinlich eher genehm; dieser, mit pittoreskem neapolitanischem Witz ausgestattet, würde eher Sympathien bei den Rechtsparteien finden, falls man gezwungen sein sollte, wieder auf eine Lösung zurückzugreifen, wie sie zur Wahl Segnis geführt hatte. Jedoch ist noch die Rechnung mit Fanfani zu machen, der klar darauf aus ist, das mit Giovanni Gronchi geglückte Experiment zu wiederholen, also die Gunst der Extremen zu erwerben und genügend Anhänger in der eigenen Partei zu finden, die er auf ihrem linken Flügel und in der Opposition des Exministerpräsidenten Scelba sucht. Die Kräfteverhältnisse im Parlament liegen so, daß die DC allein keinen Kandidaten durchzubringen vermag, ohne sie aber auch keine andere Gruppe und kein Block den ihren zum Sieg bringen kann. In gemeinsamer Sitzung, die aus Raumgründen im Montecitorio-Pa- last, Sitz der Abgeordnetenkammer, einberufen wird, wählen insgesamt 321 Senatoren, 630 Abgeordnete und je drei Vertreter der autonomen Regionen Sizilien, Sardinien, Südtirol- Trentino, Friaul-Julisches Venetien sowie einer aus dem Aostatal: alles zusammen 964 Wähler. In den ersten drei Wahlgängen ist die Zweidrittelmehrheit erforderlich: 643 Stimmen. Vom vierten Wahlgang ab genügt die absolute Mehrheit: 483 Stimmen. Nach den politischen Parteien ver teilen sich die Wähler in folgender Weise: Neofaschisten 44, Monarchisten 8, Liberale 57, Democrazia Cristiana 401, Sozialdemokraten 47, Nenni-Sozialisten 95, Republikaner 5, Sozialproletarier 37, Kommunisten 254, andere 16.

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