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Sozialismus in der Krise Europas

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Die italienischen Wahlen können als ein Paradigma gelten. Ihr Schulbeispiel verdient gewertet zu werden. In Zeiten großer Entscheidungen, wie sie jetzt zum Austrag stehen, zählen die verwaschenen Parteien, die politischen Gebilde ohne klar umrisse- nes Bekenntnis, nichts; dann verschwinden die Qualunqües, die nur das Anderssein- wollen-als-die-andern auszuspielen haben, in der Versenkung, aus der sie, begünstigt durch die Ermüdung eines Volkes nach schweren Erlebnissen, emporgetaucht sind. Dann bekommt nicht einmal ihr Giannini ein Mandat, so geschickt sein politischen Bühnentricks gewesen sein mögen. Dann zählen nur die Träger klarer, eindeutiger Programme, die Ganzen, die Kompromißlosen. — In solchen Zeiten wird dann aber auch der Sozialismus, stets aufs neue vor die unerbittliche Tatsache gestellt: wo er den Versuch einer politischen Verbindung zwischen der Wesenheit des westlichen und des östlichen Marxismus unternimmt, und sei es auch nur in Form eines losen Bündnisses, dort zersplittert er daran und ist in Gefahr, völlig verzehrt zu werden. Die gemeinsame Theorie wird ihm zum Verhängnis, die Ahnentafel, die mit dem „Kommunistischen Manifest" beginnt: „Ein Ge spenst geht um.“ In der Tat ein Gespenst der gemeinsamen Theorie, die langst in einen sehr nüchternen, zielstrebigen, refor- rhėrischen und zweifellos auch erfolgreichen sozialistischen Realismus gemündet ist und die trotzdem immer wieder den Sozialismus des Westens ungeachtet seiner wissenschaftlichen und praktischen Eigenständigkeit in die tödliche Umarmung des Kommunismus dort führt, wo er selbst nicht rechtzeitig dieser Gefahr gewahr wird. So geschah es in allen Balkanstaaten, derselbe Prozeß vollzieht sich in der Ostzone Deutschlands und ist schon fast restlos vollendet in, der Tschechoslowakei. Wurde eine allgemeine Liquidation eines großen Parteisystems eingeleitet? — Die sozialistische Union Saragats, gebildet von der geistigen Elite der italienischen Arbeiterschaft, konnte den apenninischen Sozialismus nicht vor der Spaltung bewahren, aber sie rettete seine Existenz, sie bildet den Sammelplatz, auf den die aus dem verunglückten Nenni- Abenteuer Geheilten zurückzukehren vermögen, und sie darf für sich bei seiner künftigen Stellung in der Führung Italiens das Verdienst in Anspruch nehmen, den Absturz des Landes in den Katarakt mit verhindert zu haben. Denn so überwältigend groß der Sieg Degasperis ist, sosehr er über die vielen zuvor angestellten Berechnungen wie die des Gallup-Instituts hinausgeht, die alle auf der Annahme geringer Verschiebungen in dem Kräftverhältnis bei den Juniwahlen 1946 beruhten, so wird doch der Führer Italiens eine Deckung gegen den wilden Linksradikalismus eines Togliatti für die Regierung in der Teilnahme sozialistischer Kräfte erblicken, die sich zum demokratischen Staat und den Freiheitsbegriffen des Abendlandes während einer verderbendrohenden Passage bekannt haben. Manchenorts im österreichischen Sozialismus, wo man zufolge des Sieges der christlichen Demokratie noch nicht sicher ist, ob man über den Wahlausgang in Italien weinen oder lachen soll, hat man die Rolle, die in einer historischen Stunde Europas von der Sozialistischen Union Italiens gespielt wurde, noch nicht nach Gebühr gefeiert. Es ist offenkundig, daß die Bedeutung dieser Rolle über die zwei Millionen Stimmen, die den Listen Saragats zufielen, weit hinausgeht. Sieht man sie nicht aus dem Gesichtswinkel des europäischen Ereignisses, sondern selbst nur aus dem der Parteipolitik, so hat es die Sozialdemokratie Italiens ihrer tapferen

Minderheit zu verdanken, daß sie aus den Pranken des Bären gerettet wird. Aber diese Minderheit hat mehr getan als das, sie hat Staats- und europäische Politik gemacht. Denn sie hat der Demokratie und Freiheit Europas eine neue Säule errichten helfen.

Hat hier das italienische Paradigma auch für Österreich etwas zu sagen?

Die Sozialdemokratie unseres Landes — um ihren geschichtlichen Namen zu gebrauchen — hat in der Nachkriegszeit, gewiß nicht zuletzt aus dem Bewußtsein der Verantwortung, die ihr durch ihre Stärke im Staate auferlegt ist, ihre Stellung gegenüber dem Kommunismus deutlich abgegrenzt. Wenn einmal die Zeit gekommen sein wird, die Geschichte der zweiten österreichischen Republik in den ersten Jahren nadi dem zweiten Weltkrieg zu schreiben, dann wird es die Geschichte der Koalition der beiden großen Staatsparteien sein, die mitsammen mit unendlicher Geduld durch die Mühseligkeiten und unverdienten Demütigungen eines Staates steuerten, der das Versprechen seiner Unabhängigkeit empfangen und verdient hatte, aber zwischen rivalisierenden Mächten ohne eigene Kraft in Abhängigkeit von allen erhalten wurde. Hier war und ist es die schwere Aufgabe der gemeinsamen Führung, eine aufredite, trotz allem ungebeugte Demokratie und die alte Kultur dieses Staates in sicherer Hut zu halten. Die Leistung dieser Arbeitsgemeinschaft grundsätzlich verschieden gearteter politischer Einheiten, die aber durch den Willen zu diesem Staat und zur Freiheit verbünden sind, wird einmal denkwürdig sein; sie ist jetzt in ihrer Fortdauer das Unterpfand dafür, daß unser, Volk sich seinen Platz unter den freien Nationen erringt, mit um so größeren Ehren, je höher die zu übersteigenden Hindernisse sind. Unverkennbar, daß diese Zusammenarbeit für ein großes Ziel parteipolitische Rücksichten, zeitweilige Verzichte auferlegt. Sie fallen manchen selbst aus den vorderen Reihen des Sozialismus so schwer, daß sie, nicht immer behutsam, die empfindlichsten Stellen abtasten, an denen der Zusammenhalt sich bewähren muß. Das gilt vor allem von der Schulfrage, in der auch in jüngster Zeit wieder Formulierungen vorangestellt werden, die eine vorsichtigere Anpassung an die den beiden Staatsparteien auferlegten Gesetze gerechter Bedachtnahme auf den Partner verlangen würden. Oder besser gesagt: Bedachtnahme auf das Gemeinsame, auf das gemeinsame Schicksal, auf die gemeinsam zu erkämpfende Zukunft unseres Landes, das sein Los in die Hände der beiden großen, in der Regierung verbundenen Parteien gelegt hat. Das sollte nie vergessen werden.

Dem österreichischen Sozialismus fällt eine ähnliche überstaatliche Funktion zu, wie sie in dem großen italienischen Ereignis die Sozialistische Union geübt hat: d a s konstruktive staatspolitische Potential des Sozialismus in der schweren Krise Europas zu erweisen. Es wird nie im Raume einer totalitären, tyrannischen Systematik liegen können, sondern immer nur in der bewußten Synthese der gesunden demokratischen Kräfte. Die Aufgabe ist groß und bedeutungsvoll. Sie legt Verpflichtungen auf, die Überwindung von Versuchungen. Aber sie vermag eine große Legitimation zu begründen, für die es wert ist, sich zu bemühen. Denn das u ns allen gemeinsame Problem ist — um mit den Worten des führenden Wiener sozialistischen Blattes zu reden —, „Verteidigung der demokratischen Freiheit gegen jede Diktatur und wirksamer Wiederau f b a u".

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