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Aids-Galgenfrist

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Die Hoffnung der Gefährdeten heißt gp-160. Die Erprobung am Menschen steht aus. Die Versuchspersonen werden über jedes mögliche Risiko in Kenntnis gesetzt.

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Die Hoffnung der Gefährdeten heißt gp-160. Die Erprobung am Menschen steht aus. Die Versuchspersonen werden über jedes mögliche Risiko in Kenntnis gesetzt.

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Möglicherweise gibt es ihn schon, den ersehnten Impfstoff gegen Aids, um dessen Entwicklung Forscherteams in mehreren Ländern wetteifern. Als man den Erreger noch nicht kannte, meinten viele Fachleute, nach der Identifizierung werde die Herstellung eines Impfstoffes Frage weniger Jahre sein. Das Problem erwies sich als viel komplizierter, als sie annahmen. Der neue Hoffnungsträger heißt gp-160 und kommt aus Österreich.

Doch noch ist er nicht erprobt. Die versuchsweise Anwendung am Menschen wird für jene, die sich zur Verfügung stellen, mit Risken verbunden sein.

Der österreichische Pharma-Konzern Immuno-AG hat diese Risken nun in aller Offenheit aufgelistet — wer sich ihnen aussetzt, soll wissen, worauf er sich einläßt:

Naturgemäß wird es für die ersten Probanden keine Garantie geben, daß der Impfstoff vor Ansteckung schützt.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein später entwickelter, wirkungsvoller Impfstoff in ihrem Fall keine Wirkung zeigt.

Es besteht sogar die Möglichkeit, daß bei ihnen eine erhöhte Anfälligkeit für eine Aids-Infektion eintritt.

Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß durch die Impfung jeder Geimpfte im Test Aids-Antikörper-positiv wird. Das hat auch die Folge, daß eine trotz Impfung eingetretene Infektion mit den heute üblichen Tests nicht erkannt wird. Immuno hofft, ein Verfahren entwickeln zu können, das es ermöglichen wird, die durch Impfung entstandene positive Reaktion von jener, die auf eine echte Aids-Infektion zurückgeht, zu unterscheiden.

Die Prüfung des gp-160 wird in drei Phasen erfolgen. In der ersten wird man ihn auf eventuelle Nebenwirkungen, in der zweiten auf Unschädlichkeit und in einer dritten Phase auf seine Schutzwirkung überprüfen.

Immuno arbeitet bekanntlich eng mit amerikanischen Aids-Forschern zusammen und wird aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen jeden weiteren Schritt, auch und gerade was Tests am Menschen betrifft, nur in Absprache mit dem Volksgesundheitsamt der USA setzen. Da die Schimpansen der Immuno keine Nebenwirkungen erkennen lassen, könnte mit Phase 1 der klinischen Prüfung an sich bereits begonnen werden.

Die Ironie des Zufalls wollte es, daß am selben Tag, an dem die Immuno-AG den Stand ihrer Entwicklungsarbeit in Sachen Aids-Impfstoff offenlegte, ebenfalls in Wien eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes bekannt wurde: Eine amtierende Zweite Nationalratspräsidentin muß für den an die Adresse eines nicht mehr amtierenden Vizekanzlers gerichteten Vorwurf, er habe mit der Bewilligung eines Schimpansen-Imports für die Immuno einen .JAechtsbruch“ begangen, zivilrechtlich geradestehen, der Hinweis auf die parlamentarische Immunität wurde in diesem Fall nicht akzeptiert.

Dieselben Schimpansen spielen nun eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung eines Aids-Impfstoffes, aber angesichts des Um-sich-Greifens von Aids und der Verzweiflung so vieler Erkrankter oder „nur“ Aids-Positiver ist es um die „Menschenrechte der Tiere“ still geworden. Zumal die Einwände der Tierschützer gegen die Größe der Käfige der Tierhaltung bei Immuno nicht mehr entsprechen sollen, die Tiere in den Testphasen in Einzelkäfigen, aber mit Sicht-, Gehör- und Geruchskontakt gehalten werden und der Impfstoff den Schimpansen offenbar nicht schadet. Die Frage, ob sie überhaupt an Aids erkranken können, ist noch immer nicht geklärt — sie ist eines der vielen ungelösten Rätsel der Aids-Forschung. Bisher ist keine Erkrankung eines mit Aids infizierten Schimpansen bekannt geworden.

Wenigstens in Sachen Aids ist Österreich zwar keine Insel der Seligen, aber doch in einer günstigeren Situation als viele andere Länder. Die Verlangsamung der Aids-Ausbreitung in Österreich hielt an. Bis Ende Mai 1988 erkrankten 182 Personen am Aids-„Vollbüd“ und wurden 2.433 „Aids-Positive“ registriert. Die Zahl der Neuerkrankten war heuer um 50 Prozent niedriger als im gleichen Vorjahres-Zeitraum.

Diese Zahlen sollten aber niemanden in Sicherheit wiegen. Das friedliche Bild kann trügen. Es kann dadurch entstanden sein, daß die Krankheit in den Risikogruppen ein Maximum ihrer Verbreitung erreicht hat und unmittelbar nach dem befürchteten „Sprung ins heterosexuelle Milieu“ ebendort eine prozentuell möglicherweise hohe Zunahme der Erkrankungen nur deshalb, weil sie zahlenmäßig noch klein ist, unbemerkt bleibt, dann aber unbarmherzig zuschlägt.

Offen bleibt auch die Frage, wie viele von jenen, die sich ungefährdet wähnen, einen Test machen lassen, wie groß also die Dunkelziffer nicht erkrankter. Angesteckter ist.

Von der Aids-Realität in der Dritten Welt werden — leider glaubwürdige — Horrorziffern gemeldet: In manchen afrikanischen Großstädten sind fünf Prozent der Bevölkerung infiziert, in den Bars knapp unter 90 Prozent der sich dort anbietenden Frauen, an den wichtigen Fernstraßen fast die Hälfte der Lastwagenfahrer. Dies gibt eine Ahnung von der Dimension der Gefahr. Österreich hat vielleicht noch eine Galgenfrist. Das ist aber auch schon alles.

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