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Die sanfte Geburt

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Die Antwort auf die an Geburtshelfer unseres Kulturkreises wiederholt gestellte Frage „Wie viele Frauen erleben die Geburtsstunde ihres Kindes im Kreißsaal als eine schöne und glückliche, als angenehme, als ,schöpferischen Akt‘?“ lautet immer: „So gut wie keine; besonders aber Frauen der unteren Sozialschichten fühlen sich durchwegs unglücklich, ent-

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Die Antwort auf die an Geburtshelfer unseres Kulturkreises wiederholt gestellte Frage „Wie viele Frauen erleben die Geburtsstunde ihres Kindes im Kreißsaal als eine schöne und glückliche, als angenehme, als ,schöpferischen Akt‘?“ lautet immer: „So gut wie keine; besonders aber Frauen der unteren Sozialschichten fühlen sich durchwegs unglücklich, ent-

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zu verhindern, aber es kann auf ein Minimum abgeschwächt werden.

Die sanfte Geburt bedeutet aber auch, daß sie für Mutter und Kind und für den Vater, der bei der Geburt anwesend sein will, zu einem positiven, glücklichen, schöpferischen Erlebnis wird. Erleichtern kann man mündigt, gedemütigt.“

Und die Neugeborenen? Im „Kurier“ konnte man am 29. Februar lesen: „ .Sauschlecht' ist nach dem vernichtenden Urteil von Prof. Dr. … die medizinische Betreuung Neugeborener in einigen Wiener Entbindungsanstalten.“

In der „Medical Tribüne“, vom 9. Februar 1979, lautet der Titel eines Aufsatzes: „Risikogeburt in Österreich - Manche Kliniken sind gefährlich.“ Und in der ,AZ“, vom 15. Juli, erschien ein Artikel mit der Überschrift: „Sind Frauenärzte Frauenfeinde?“

Seit einigen Jahren wird von „sanfter Geburt“ gesprochen. Dieser zum Schlagwort gewordene Begriff des französischen Frauenarztes F. Leboyer findet sich in dem Buch „Pour une naissance sans violence“ (1974),

worin er mit ergreifenden Worten, das Kind in den Mittelpunkt stellend, eine sanftere Geburt fordert und damit eine Veränderung der hochtechnisierten Geburtshilfe,„wie sie in den Kreißsälen der modernen Welt üblich geworden war.

Neugeborene Kinder können nicht befragt werden, aber heute wissen wir, daß bis zum Auftreten Leboyers der Weg des fertigen Menschen in die Außenwelt fast ausnahmslos ein Schock von unerhörter Brutalität war. Bereits hinsichtlich des vorgeburtlichen Lebens sind in vielen Ländern Forschungen weit gediehen und es liegen wertvolle Erkenntnisse vor.

Unsere Lehrer und Vorfahren waren bestrebt, die normalen Vorgänge des Lebens, die normale Geburt und was immer damit zusammenhängt, in den Griff zu bekommen. Dies ist ihnen gelungen - allerdings um einen hohen Preis.

Die Säuglingssterblichkeit ist gesunken, und zwar auf Werte, die man noch vor einem halben Jahrhundert für utopisch gehalten hatte. Sicher ist diese positive Entwicklung eine Folge der in jüngster Zeit erfundenen apparativen Geburtsüberwachung oder der programmierten Geburt, die mancherlei Vorteile mit sich bringen kann, die aber viele Frauen als unnatürlich ablehnen. Sie empfinden sie als Beeinträchtigung ihrer Erlebniswelt, sie fühlen sich um ihre eigene Leistung, das Kind zu gebären, betrogen, dazu eingezwängt in ein technokratisch-bürokratisches System, das die Mutter zur Gebärmaschine macht und das Kind zum Gebärobjekt.

Wenn man heute weiß, daß das Geburtserlebnis die Mutter-Kind-Beziehung entscheidend prägt, daß Störungen dieser ersten Beziehungen sich verhängnisvoll auf die weitere Entwicklung des sozialen Verhaltens des Menschen auswirken und daß später nicht gut gemacht werden kann, was am Lebensbeginn versäumt wurde, versteht man die Unruhe der jungen, werdenden Mütter.

In der Bundesrepublik Deutschland hat voreinemJahr der Deutsche Frauenring von der Empörung be- richtet.über „Gewohnheiten, die sich in vielen Entbindungskliniken eingebürgert“ haben. Es geht nicht allein darum, mit allen technischen Mitteln und Raffinessen Kinder am Leben zu erhalten und Retortenba- bies zu erzeugen, sondern es ist voneminenter Bedeutung, den Lebensbeginn als einen für die Prüfung des Menschen ausschlaggebenden Lebensabschnitt zu erkennen.

Seit etwa 15 bis 20 Jahren haben sich Ärzte, Psychologen, Verhaltensforscherund Neurologen in aller Welt aufgemacht, um einen gefährlichen Mythos zu zerstören: die ungerechtfertigt überbewertete Bedeutung der Medikalisierung von Geburt und Wochenbett. Sie ist nicht alles. Organisationsfreude und Ordnungssinn in einem klinischen Betrieb, in dem das Kind von der Mutter getrennt wird, muß heute als Eingriff des Medizinmannes in den natürlichen Ablauf einer Geburt und als eine Entgleisung betrachtet werden.

Wir müssen erkennen, daß die anklagenden Worte Ivan Illichs ihre Berechtigung haben, wenn er sagt, daß die Medikalisierung der normalen Lebensvorgänge eine Hauptgefahr für unsere Gesundheit darstellt.

Glücklicherweise ist nunmehr ein gesunder Prozeß angelaufen. Man spricht nicht nur von den Vorteilen, etwa der programmierten Geburt, sondern auch von deren Mißbrauch. Sicherlich wird in Zukunft die Zahl der selbstbewußten Frauen zunehmen, die nicht mehr gewillt sind, in eine passive, unmündige Rolle gedrängt zu werden; man wird sie individuell in die ärztliche Entscheidung und Risikoabwägung miteinbezie- hen.mųssen.

Daß da? Kind in den ersten Le- bensminuten und.-stunden nur zwei Dmge braucht nämlich Schlaf und Wärme, ist falsch; es hat ein Bewußtsein, es kann glücklich und unglücklich sein. Die tiefe Not des Neugeborenen, das durch sein anhaltendes lautes Schreien seinen vor allem seelischen Schmerz kundtut, müssen wir erkennen.

dem Neugeborenen seinen Eintritt in die neue Welt, indem man es sofort

Sanfte Geburt bedeutet Geburt ohne Gewalt, ohne gepreßt oder geblendet zu werden, ohne Scheinwerfer, ohne Lärm (laute Stimmen!). Sanfte Geburt bedeutet Geduld, Aufmerksamkeit, Zuneigung - und Zeit. Das Trauma der Geburt ist nichtder Mutter übergibt, denn nur bei ihr findet es die richtigen Gesten der Liebe und Fürsorglichkeit.

Geburtshelfer müssen viel mehr als bisher dem Informationsbedürfnis der Laien entsprechen. Sie müssen lernen, was menschliche Ansprache heißt. Nur so kann das Risiko von Mißverständnissen geringer werden, nur so kann der Ruf „Zurück zur Hausgeburt“ verstummen. Denn „Hausgeburt“ und damit „sanfte Geburt“, kann auch in die Entbindungsanstalt hineingetragen werden.

Das tiefe Mißtrauen gegenüber der modernen Geburtshilfe ist nirgends so groß wie bei uns, was nicht zuletzt auf die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in Österreich trotz beachtlichen Absinkens noch immer doppelt so hohe Säuglingssterblichkeit zurückzuführen ist.

Eine meiner Schwesternschülerinnen (19 Jahre), hat vor kurzem am Ende ihrer Ausbildungszeit, in einer abschließenden Diplomarbeit, die gesellschaftspolitische Bedeutung von Geburt und Schwangerschaft so verständlich für jedermann zusammengefaßt, daß ich sie abschließend wiedergeben möchte: . -

„Ich vertrete die Ansicht, gute Familienplanung, gute Schwangerenbetreuung und eine Geburt, möglichst schonend für Mutter und Kind in einer Atmosphäre von körperlicher und seelischer Ausgeglichenheit, sollte das Ziel unserer Gesellschaft sein. Dann stünde dem gesunden Neugeborenen das Tor der Welt, die so viel Schönes bietet, weit offen.“

(Der Autor ist Primarius am Gottfried von Preyerschen Kinderspital der Gemeinde Wien.)

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