Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Entfesselter Pirandello
Paris und Moskau lagen ihnen zu Füßen, Zürich und Wien feierten sie enthusiastisch. Doch die vitalen Italiener des „Theatro Stabile di Ge-nova“ machten sich heuer rar, nur Innsbruck kam — als einzige österreichische Stadt — in den Genuß eines Exklusivgastspiels der berühmten Truppe auf ihrem Weg nach Zürich. Im Großen Haus des Tiroler Landestheaters war die Erinnerung an den exemplarischen Goldoni des Vorjahrs noch wach. Der Trumpf aber, den die Genueser heuer ausspielten, hieß Luigi Pirandello.
„Questa sera si recita a soggetto“ („Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt“) lautet der sonderbare Titel jenes turbulenten Theaterstückes, das der europäischen Bühne schon vor mehr als vierzig Jahren einen genialen Vorläufer des absurden Theaters schenkte, ein Musterexemplar an Vielschichtigkeit und Doppelsinn, zudem an virtuoser
Theater-im-Theater-Dramaturgie die den Zuschauer durch den fortwährenden Wechsel von scheinbarer und echter Illusion ungefähr in den Zustand eines Karussellfahrers versetzt, der am Schluß nicht mehr weiß, ob eigentlich er selbst oder die Dinge ringsum sich drehen. Die eigentliche Handlung, ein makabres sizilianisches Eifersuchtsdrama, dient praktisch nur als Vorwand für ein entfesseltes Totaltheater, das den „Denkspieler“ Pirandello sein ureigenes Anliegen, nämlich die Aufhebung der Grenzen zwischen
Sein und Schein, die Austauschbarkeit von Bealität und Illusion, mit equilibristischer Beavour ausspielen läßt.
Luigi Squarzina ist ein Meister der Kunst, aus heterogenen Individuen ein homogenes Ensemble zu schmieden, das hier ein wahres Feuerwerk rezitativischer und gestischer Agilität abbrannte — und das mit atemberaubender Rasanz und Präzision. Allein die sprachliche Komponente erschloß eine neue Dimension. Man sieht es immer wieder: Im Italienischen artikuliert sich — fast von selbst — überzeugende Theatralik, hier hat man aber auch den Mut, sie gustiös auszuschöpfen und virtuose Zungenfertigkeit zu kultivieren. Allein die Dynamik des immer wieder aufbrandenden Stimmengewirrs, der hitzigen, coram publico geführten Debatten der emanzipierten Mimen schienen mit geradezu dirigentischem Konzept gesteuert.
Vor allem aber gelang es dem großen Squarzina, hier jenes Universaltheater zu verwirklichen, das Pirandello vorgeschwebt haben mag, das seine legitimen Ingredienzien von der Commedia dell'arte ebenso gültig herleitet wie vom Opern-verismo oder von der modernen Theaterwerkstatt.
Gianfranco Padovani hatte das Interieur des Hauses mit sparsamen Mitteln, aber effektvoll verändert, Bühne und Parkett verbunden und in den Kostümen freie Phantasie und signifikante Apostrophierung kombiniert. Ein rückhaltloses Pauschallob den faszinierenden Typen des 32köpfigen Ensembles, voran Eros Pagni als „Dottor Hinkfuß“ (dem in Maske und Wort liebevoll persiflierten Max Reinhardt) und Lina Volonghi als einer Komödiantin von impetuoser Grandezza Hinreißend, sprühend, präsent.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!