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Von der Improvisation zum Dauererfolg

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In diesem Monat sind zehn Jahre vergangen, seit das erste ständige Prosatheater Italiens in Mailand in der Via Rovello seine Pforten öffnete. Im Land der einstigen Commedia dell’arte und der Wanderbühnen ein gewagtes Unternehmen, ein Spiel mit der Gunst und der Laune eines wechselsüchtigen Publikums, dem obendrein die Improvisation Lebenselement ist. Denn die oft versuchte und nie gelungene Entwicklung stabiler Formen des Prosatheaters setzt in Italien voraus, daß einem breiten, kunstverständigen Zuschauerkreis besterprobte Bühnenwerke der Vergangenheit und der Gegenwart in vollendeter Form dargeboten werden. Besonders an einem breit verteilten, der Kunst ergebenen Publikum hat es fast stets und überall gefehlt. In der schnell aus den Ruinen des Krieges wiedererstandenen Handelsmetropole Mailand mit weit über einer Million Einwohnern ermunterten hohe Geistigkeit und anspruchsvoller Lebensstil der oberen Zehntausend zu dem kühnen Experiment, das zwei hervorrragende Begabungen, die Dramaturgen und Spielleiter Giorgio Strehler und Paolo G r a s s i, in diesem Jahrzehnt zum Welterfolg führte.

Zum Welterfolg! — Denn der Zehnjahresbericht zählt nach der Erprobung und wachsenden Behauptung in Mailand Aufführungen in fünfzehn Ländern Europas und Amerikas auf, wo das „kleine Theater von Mailand” seine Kunst in höchster Vollendung zeigte, dazu im Wohlklang der italienischen Sprache. Einer Interpretation bedurfte es dabei nicht. Ueberall, so in Wien und Montevideo, in Agram und Edinburgh, in Weimar und Sao Paulo, war der Applaus begeistert und ungeteilt. Aus Deutschland waren Einladungen aus zehn Städten gekommen — und gerade auch in Oesterreich war die Aufnahme besonders herzlich. Es klingt unglaublich, fast überheblich, wenn ein Teilnehmer der Truppe nach dieser Kette von Auslandserfolgen sagte: „Um Beifallsstürme zu entfachen, bedurfte es für die Mitwirkenden nicht des Verzichts auf die italienische Sprache.”

Im Gegenteil! — so möchte man hinzufügen. Solche „Kleinen Theater”, also stabile, an den Ort gebundene Bühnen, waren Italien bis dahin unbekannt. Die vorherrschende Erscheinung waren die „ambulanten Schauspieler”, hier „Nomadenschauspieler” genannt, die von Ort zu Ort zogen und mit engumgrenztem Repertoire ein ständig wechselndes Publikum zu fesseln versuchten. Da fehlte die Pflege großer dramatischer Kunst — ohnehin stand das Lustspiel im Vordergrund —, und noch mehr fehlte die alle Begabungen anspannende Spielgemeinschaft. Das „Piccolo Teatro di Milano” hat nun mit Wagemut, Beharrlichkeit und unter höchster Anforderung an Spielplan und Ensemble mit der festverwurzelten Tradition gebrochen und sich gleichsam in der lombardischen Hauptstadt angesiedelt. Nur auf ihre Kraft und Leistung vertrauend, zunächst ohne irgendwelche Zuschüsse von Stadt und Staat, gewann das Theater Anhänger und Freunde. Es fing in bescheidener, fast primitiver Unterkunft (ohne ausreichende Ankleideräume, Garderoben, ohne Requisiten und Requisitenkammer, ohne Wandelhalle) an. Der stets ‘ überfüllte Zuschauerraum mit 650 Sitz-1 platzen kündete das rege Interesse der überschritt der Ruhm die Grenzen der Metropole und des Landes und verbreitete sich im näheren und ferneren Ausland.

Auch in Italien zündete das überzeugende Beispiel dieses ersten, sich behauptenden „stabilen Theaters” und rief bald Nachahmung — wenn auch zumeist schwächliche Nachahmung! — in anderen Groß- und Mittelstädten, so in Genua, Bologna, Rom, Neapel wach. — Aber das „Piccolo Teatro di Milano” blieb das unerreichbare Vorbild. Denn es pflegte die echte künstlerische Leistung. Es machte keine Konzessionen im stets auf hohem Niveau stehenden Spielplan, der weder die großen Klassiker noch die Modernen unterschlug und der gar den Mut aufbrachte, ähnlich den deutschen „Kleinen Bühnen”, Theater der Avantgarde zu sein. Am deutlichsten kam dies in den jüngsten Aufführungen der „Jakobiner” des auf-’ steigenden Dramatikers Frederico Žardi zum Ausdruck, der die große Tradition Luigi Pirandellos und Ugo Bettis in eigenwilliger Weise fortsetzt.

Nur ein einziges Mal erhielt diese, die italienisch Schauspielkunst in alle Welt tragende Bühne eine Art Anerkennungsgebühr in Form einer finanziellen Beihilfe von 95 Millionen Lire (knapp 4 Millionen Schilling), die mit 40 Millionen von der Mailänder Stadtverwaltung, mit 20 Millionen vom Staat und mit 3 5 Millionen von Theaterfreunden beigesteuert wurde. Zuwenig, um eine solide Basis zu schaffen, zuwenig vor, allem, um das Kleine Theater, wie es not tpte, zu vergrößern und ihm einen würdigeren Rahmen zu geben als den heutigen primitiven.

In diesem Zusammenhang hört die italienische Presse nicht auf, das Beispiel der deutschsprachigen Bühnen zu erwähnen, wo der Staat und die Kommunen angeblich mit vollen Händen große und kleine Bühnen durch Subventionen zu Höchstleistungen anspornen.

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