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WO IST DIE MODERNE?

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Kurz nach Erklärung der vollkommenen Pressefreiheit in Spanien erregte ein Artikel der meistgelesenen Tageszeitung „ABC“ in den Literaturkreisen großes Aufsehen. Der junge Spanier Fernando Arrabal beklagte sich öffentlich über die Verschlossenheit seiner Landsleute gegenüber dem modernen Theater, die dadurch jungen Talenten den Weg zum Erfolg erschweren. Überhaupt habe Spanien in den letzten Jahrzehnten oft bewiesen, wie sehr es seine Künstler — nicht nur in der Literatur — ignoriere, und es müsse sich nun gefallen lassen, wenn es heißt: „Picasso und Miro sind Franzosen, Buiiel ist Mexikaner und Casals und Ochoa sind Amerikaner.“1 De Fälla starb arm und ohne nur ein einziges seiner Werke im Teatro Real gehört zu haben. Als er 1919 für „La Vida breve“ den Nationalpreis erhielt, wurde das Werk nur 'Unter der Bedingung aufgeführt, daß das Textbuch, geschrieben von Carlos Femandez Shaw, ins Italienische übersetzt würde. Jahre hindurch konnte Spanien ohne Federico Lorca auskommen, denn erst 1964 (früher war es aus politischen Gründen nicht möglich) wurde erstmals sein Stück „Bernada Albas Haus“ aufgeführt, nachdem es bereits am Spielplan aller führenden Theater der Welt erschienen war. Valle Inclän starb, bevor nur ein einziges seiner Werke aufgeführt wurde; jetzt allerdings trägt ein Theater seinen Namen.

Arrabal sagte wörtlich: „Ein Genie von jetzt und hier besteht, indem es die Ohren zuhält, um die allgemeine Ironie nicht zu hören, und die Augen weit öffnet, um die Kunst von heute und morgen zu empfangen. Die spanische Gesellschaft ist durch ihren übermäßigen kitschigen Patriotismus die unpatriotischste, die ich kenne. Und ich sage sogar das Schlimmste: Diese Gesellschaft lehrt uns (wie sie es bereits mit den Besten unserer Größen machte), auf Spanien zu verzichten.“

Auch aus der Gegenwart ließen sich Beispiele anführen. Arrabal lebt seit 1954 in Paris und schreibt seine Stücke auf Französisch. In Spanien werden seine absurden Dramen nur belächelt und von Zeitungen unlogisch und grab kritisiert: „Arrabal ist verrückt“ oder „Arrabal will das Literaturniveau auf seine Höhe bringen, 1,50 Meter“ oder „Arrabal ist ein Bauer“. Nur innerhalb der Grenzen des eigenen Landes bekannte spanische Autoren behaupten: „Der ^Künstler muß die Interessen seines Volkes verstehen und vertreten, um ein Recht auf Anerkennung zu haben.“ Außerdem ist anzunehmen, daß diese Kritiker kaum großen Einblick in Arrabals Schaffen haben, da bis jetzt nur ein einziges seiner Werke in spanischer Sprache erschien. Vor einigen Monaten setzte es eine Laiengruppe durch, einen seiner Einakter, „Ciugrena“, aufzuführen, und es war erstaunlich, welchen Ansturm das Stück erlebte. Studenten und andere junge theaterbegeisterte Leute drängten sich stundenlang um Eintrittskarten. In der spanischen Jugend herrscht offensichtlich großes Interesse für Neues und Modernes, doch dies dürfte nicht stark genug sein, um die jetzigen Funktionäre des Kulturlebens zu beeindrucken. Auch Carlos Biuzas satirische Kurzgeschichte, nach dem das Fernsehspiel „Der Asphalt“ verfaßt wurde, das in diesem Jahr mit dem internationalen Fernsehpreis „Die goldene Nymphe“ in Monte Carlo ausgezeichnet wurde, erschien erstmals in einer französischen Tageszeitung. Schuld an diesen Verhältnissen ist vor allem die soanische

Gesellschaft, die sich durch Scheu und Unkenntnis auszeichnet. Ein ernüchterndes Beispiel dafür ist die Beliebtheit eines Alfonse- Pasos, dessen leichte volkstümliche Stücke auch ein Großteil der Akademiker einem Lorca oder VaMe Inclän vorzieht. Ständig führen mindestens drei der 17 Madrider Theater Stücke von ihm auf.

Haben es Spanier in Spanien schon schwer, wie aussichtslos ist es dann erst für einen Ausländer! Im Theater erscheint höchst selten ein Stück von Ionesco oder Beckett oder einem anderen modernen Autor. Doch nicht nur das zeitgenössische Theater wird vennachlässigt, sondern das

neuere überhaupt. August Strindberg zum Beispiel ist sogar in Fachkreisen ein -unbekannter Name. Im Herbst 1966 wurde in Spanien erstmals ein Stück von Bertold Brecht aufgeführt, und zwar „Mutter Courage“. Dank einer guten Übersetzung von Buero Vallejo und einer eindrucksvollen schauspielerischen Leistung der Amelia de la Torre war es eine außergewöhnliche Aufführung. Der Schweizer Friedrich Dürrenmatt hat etwas mehr Glück, und einige seiner Stücke werden aufgeführt. Seinen Landsmann Max Frisch hingegen kennt man nicht. Man könnte moderne Autoren aller Nationen aufzählen, aber es bleitot gleich,, ob es sich um einen Amerikaner, Engländer, Deutschen oder Franzosen handelt.

Betrachtet man den Jahresspielplan der Madrider Theater, so entdeckt man hinsichtlich des modernen Theaters nur wenig interessante Aufführungen. Vor einiger Zeit spielte man „Warten auf Godot“, und zu Beginn des Jahres wurden zwei Einakter von Harald Pinter aufgeführt, „Der Geliebte“ und „Der Sammler“. Will man moderne Theaterstücke lesen, so muß man Bücher südamerikanischer Verlage kaufen.

Ein Lichtblick ist das Spanische Fernsehen. Es beachtet das Theater von heute. Im wöchentlichen Programm „Studio 1“ wird abwechselnd ein modernes und ein klassisches Stück gesendet, und meist unter recht guter Regie. Auch die kurzen Einakter, die das Abendprogramm vervollständigen, sind oft von erstaunlichem künstlerischem Wert. Der Rundfunk jedoch steht dazu in großem Gegensatz. Er findet es nicht der Mühe wert, Zeit und Geld für gute Hörspiele zu verschwenden. Er betrachtet als seine Aufgabe, die Spanier mit Musik und kitschigen Fortsetzungsromanen zu versorgen.

Es bleibt nur zu hoffen, daß es der jetzigen jungen Generation gelingen wird, dem modernen Theater die Türen zu öffnen. Erste Schritte wurden bereits unternommen. Der Staat gründete ein „Teatro de Cämara y Ensayo“, welches sich zu einer interessanten Experimentierbühne entwickelt hat. Auch jede Universitätsfaikuität verfügt über eine Studententheatergruppe, die ebenfalls finanziell unterstützt wird. Natürlich haben es die jungen Leute schwer, ganz ohne Vorbild und Erfahrung zu arbeiten, aber dank ihres Enthusiasmus und ihrer Phantasie werden sie einen Weg finden, um diese kulturelle Lücke Spaniens au beseitigen.

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