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Die Mailänder Scala

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Die enge Bindung, die zwischen der Scala in Mailand und dem erbeingesessenen PatrizieiTum dieser Stadt besteht, ist in der Geschichte europäischer Opernhäuser einmalig. Mit Recht gilt daher der „Teatro alia Scala“ als der sichtbare Ausdruck der Kultur dieser Gesellschaft. Er erstand in politisch bewegter Zeit, in einer Epoche fremdländischer Besetzung, und ist im zweiten Weltkrieg auch während einer solchen verratet worden.

Die Fremdherrschaft allerdings ist ein Geschick, das Mailand in seiner Vergangenheit Jahrhunderte hindurch mit dem übrigen, ungeeinten Italien teilen mußte. Bemerkenswert erscheint, besonders im Hinblick auf die jüngste Katastrophe, die Tat- sadie, daß das Patriziertum seine materielle und seelische Substanz immer wieder durch die Stürme geschichtlicher Verwicklungen zu retten vermochte. Unverrückbar wie ein Pol konnte es sich behaupten. Man hat es_ stets verstanden, mit den jeweiligen politw sehen Machthabern zu paktieren, doch nur so lange, als dies den materiellen Interessen diente. Man ließ sie fallen, sobald ihre Politik das eigene Wohlergehen hinderte. Und was vermöchte besser dieses Streben zu kennzeichnen als die Diskrepanz, die heute zwischen den Innenräumen der Scala und ihrer baulichen Umgebung besteht? Ein Spaziergang durch die Wandelgänge dieses Theaters während einer Zwischenaktpause genügt, um sich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt zu fühlen. Es ist, als ob die Geschichte hier seit Jahrhunderten stillgestanden sei. Blickt man auf die elegante Gesellschaft der Logen,

hier die sakrosankten Plätze der Bevorzugten, dann spürt man die ganze traditionelle Macht dieser Gesellschaftsform. Oben auf der Galerie aber drängen sich die Minderbemittelten auf den Stehplätzen, die altgewohnte kunstbegeisterte Menge, die zum Ruhm der Scala sicher kaum weniger beitrug, als das Patriziertum der Logen und — die erlesene Künstlerschar seines Ensembles. Wie ein Phantom gleitet in dieser glanzvollen, Iichtdurchfkiceren Umgebung das Bild an unseren Augen vorüber, das die weitere Umgebung der Scala kennzeichnet: leere Häuserfronten, schlechtbeleuchtete Straßen und die Ruinen des Teatro Man- zoni. Aber es ist nicht zum erstenmal, daß die Oper Mailands ihr Haupt aus Trümmern und inmitten eines Zeitenchaos erhebt: ihre Geschichte lehrt, daß sie nach Katastrophen immer wieder wie ein Phönix aus der Asche ersteht.

Ihre erste Oper, das „Teatro ducale", erbauten die Mailänder zu einer Zeit, als die Stadt den Spaniern gehörte. Diese herrschten noch dort, als das Theater hundert Jahre später seine Bühne einbüßte und in eine Reitbahn umgestaltet wurde. Um diese Zeit besaß Mailand zwar kein eigenes Staatsleben, war aber dennoch eine mächtige Stadt, eine Königin der Kaufmannsgilden inmitten der reichen Lombardei.

Das „Teatro duc.de", das zuletzt nur mehr dem Namen nach ein Theater war, brannte schließlich ab. Aber bald darauf, nachdem die Österreicher Mailand besetzten, richtete der Adel das Opernhaus wieder auf. Es stand etwa sechzig Jahre und konnte während dieser Zeit seinėn Ruf begründen. Eine Brandkatastrophe hemmte jedoch seine Entwicklung und beraubte Mailand neuerdings seiner Opernbühne. Doch rasch entschloß sich das Patriziertum zu einem Neubau und so entstand an Stelle des „Teatro ducale" die „Scala“, die im Lauf von mehr als hundertfünfzig Jahren zu Europas bedeutendstem Opernhaus wurde.

Gouverneur von Mailand war damals ein österreichischer Erzherzog, der die Pläne des Architekten Piermarini erst der Kaiserin Maria Theresia zur Genehmigung vorlegen mußte. Zur Freude des mailändischen Patriziertums wurden diese von ihr nicht allein gebilligt, sondern sie gewährte zu ihrer Verwirklichung auch einen staatlichen Zuschuß.

Ober den Platz, auf dem die Luxusoper erbaut werden sollte, konnte man sich längere Zeit nicht einig werden. Schließlich wählte man einen Ort, auf dem eine vierhundert Jahre alte Kirche stand, Ein seltsames Schicksal wollte es, daß der Name der Kirche auf das ganze Vierte! und zuletzt auch auf das neue Theater überging. Es war zugleich der Name jener Dame, die einst die Kirche gestiftet hatte: sie stammte aus dem Geschlecht der Scala, den Herren von Verona, die Dante auf seiner Flucht aus Florenz beherbergten. Die Stifterin der Kirche Santa Maria della Scala wird als eine der reichsten Frauen ihrer Epoche genannt. Ihr Gatte war Barnabo Visconti, Herr von Mailand, dessen Neffe Gian- gaUazzo den Dom dieser Stadt begründet hat.

Im Jahre 1778 wurde die Scala mit der Oper „Europa riconosciuta“ von Antonio Salieri eröffnet. Ihr künstlerischer Ruf verbreitete sich rasch ubčr den Kontinent. In der Scala aufzutreten, wurde das ehrgeizige Ziel der Sänger und Sängerinnen, Komponisten und Dirigenten.

Wenn die Scala gleichzeitig zum Mittelpunkt der mailändischen Gesellschaft wurde, so liegt dies nicht zuletzt im phantastischen Hang des Italieners zum sichtbaren Effekt. Der Italiener liebt audi außerhalb seines Hayses einen Platz, der ihm eine Zusammenkunft mit seinen Freunden ermöglicht. In Mailand wurde dazu die Scala erwählt: zu Anfang des XIX. Jahrhunderts wurde hier alles erledigt, was die Leidenschaften, Geschäfte und Politik des Volkes ausmachte. Die Oper interessierte nur in ihren Glanz- steilen: während der übrigen Zeit zog man skb in den Hintergrund seiner Loge zurück, spielte während der Aufführung sogar Karten. Bis in letaler Zeit hinein gab es einen Spielsalon, der das Defizit des Opernbetriebes deckte.

Besonders berühmt waren die Ballette der Scala, von denen uns Stendhal, der begeisterte Freund der Scala und leidenschaft- lidje Bewunderer Italiens, begeisterte Schilderungen hinterlassen hat.

Jeder, der auf der Galerie der Scala, im Gefolge der „kleinen Leute“, einmal die Aufführung einer italienischen Oper erlebt hat, wird entdeckt haben, daß es sich bei einer solchen Aufführung nicht allein um eine Angelegenheit der Kunst, sondern um ein volkstümlich nationales Fest handelt. Am wichtigsten ist dem Italiener natürlich der Gesang, die Arie, die alle szenischen Vorgänge als Behelf erscheinen läßt. Die Oper wird so zu einer Legende, zu einem Gebilde, in dem Traum und Wirklichkeit ineinander verfließen. Eifersüchtig wachen die Italiener über jeden Ton einer Arie, scheinen jedes Geheimnis ihres Gefüges zu kennen. Ist es da zu wundern, wenn sie der Wiedergabe des Gesanges die Aufmerksamkeit eines Verliebten zuwenden?

Diese Vorrangstellung- der Arie erklärt auch die Popularität der Sänger und Sängerinnen, die von den Staatsmännern und Sportsleuten unserer Tage kaum übertroffen wird.

Nähern wir uns heute dem Platz, auf dem die „Scala“ steht, dann scheint es fast unglaublich, daß ihr stolzer Bau, der noch ,im Jahre 1945 gewaltige Bombenschäden aufwies, so rasch wieder sein altes Gesicht erhielt. Unwillkürlich denken wir dabei an unser unglückliches Operngebäude am Ring, dessen Wiedererrichtung im günstigsten Fall einer fünfjährigen Bauzeit bedarf. Mailand ist da glücklicher: innerhalb eines Jahres konnte die „Scala“ aufgebaut werden. In erster Linie ist dies dem Sohn des Dirigenten Fritz Busch zu danken, der als einer der ersten amerikanischen Soldaten in Mailand- eintraf. Seine großartige Initiative wirkte förmlich ansteckend, und so erstand die Scala in erstaunlich kurzer Zeit wieder in ihrem altgewohnten Bild. Das Patriziertum von Mailand jubelte, doch nicht überall erweckte diese Begeisterung ein gleiches Echo. Am tiefsten enttäuschte Toscanini, der es ablehnte, die feierliche Eröffnungsvorstellung zu leiten: es erschien ihm untragbar, inmitten der allgemeinen wirt- schaftlichen Nöte der Zeit in einem festlichen Opernhaus zu dirigieren.

Doch nicht allein die bauliche Erneuerung der „Scala“ bereitete Sorgen und Mühe. Auch eine künstlerische Renaissance des Theaters war erforderlich. Das Experiment gelang, und so konnte bereits die erste Saison 1946/47 zweiundzwanzig Neuinszenierungen bieten. Während dieser Stagione, die von Dezember bis Mai währte, wurde neunzigmal gespielt, wobei etwa achtzig Opern und mehrere Ballette aufgeführt wurden.

In letzter Zeit ist man audi dazu übergegangen, den Stagionebeirieb mit seinen losen vertragsmäßigen Verpflichtungen in ein festeres Gefüge umzuwandeln. Neben dem Chor ist auch das Orchester fest verpflichtet worden, und so scheint es, als ob die Scala nun in einer ähnlichen Art verwaltet und bespielt werden soll, wie die Oper in Rom, die, ähnlich unserer Wiener Oper, ein fest fundiertes Theater ist.

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