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Im Stegreiftheater alten Stils spucken, spotten Schleifermäuler, schmatzen, rülpsen Zotenerzähler mit unanständigen Gebärden, verrenken Radschlager ihre Glieder, prügeln sich Grobiane. Im Stegreiftheater von heute enthüllen vornehme Patienten Minderwertigkeitserlebnisse, Triebstörungen, Ängste, tiefseelische Verkrüppelungen, denn Stegreiftheater gefriert hier zu einem Instrument der Gruppentherapie, ist Psychodrama. Die Psychologenbühne steht gezirkelt, kühl und neutral, als Protagonist extemporiert ein Kranker, geschulte Assistenten improvisieren „Hilf s-Iche“; Schwierige, Neu-rotiker, Psychotiker schluchzen oder grinsen im Zuschauerraum, UHd Spielleiter ist ein im Privatspiel geübter Psychotherapeut.

Dieses Stegreiftheater besitzt als historische Pikanterie die Tatsache, daß sein Erfinder, J. L. Moreno, Wiener ist. Moreno gründete nahe der Oper in der Maysedergasse das erste Stegreiftheater dieser Art. Damit aber entfaltet das Wiener Volkstheater, das auf die italienische Commedia dell'arte, die extemporierte Komödie, zurückgeht, auch eine unserem wissenschaftlichen Jahrhundert angepaßte kühle Variante: das Stegreiftheater der Gruppentherapie. *

Die Commedia dell'arte, die improvisierte Komödie der Italiener, kreieren wandernde Berufskomödianten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Schauspieler einer solchen Truppe erfinden den Dialog während der Aufführung und spielen als ßerüfsdärsteller feste Rollen. Als Hauptfigur turnt der listige Diener Zanne aus Bergamo, auch Arlecchino genannt (in Neapel Pulcinella), auf dem knarrenden Bühnengerüst, immer aufgelegt zu Spott und Streichen gegen die Fetten, Faulen und Sicheren, selbst aber ist er schamlos, feige, gefräßig und versoffen. Zanne trägt eine lederne Halbmaske mit Bart, Haar, gleich einer Schweinsvisage, steckt mit dem Kopf in einem Krempenhut voll Federn. Als Kostüm setzt sich sein ältestes Gewand durch, das eine Wildschur vortäuschen soll. Aus dem engen Trikot mit den aufgenähten Fellfetzen entwickelt sich das buntscheckige Flickenkleid.

Zannes aggressive Komik verspüren Pan-talone, Dottore und Capitano am Leib; denn der alte Pantalone, venezianischer Kaufmann (mit Hose, Strümpfen, prächtigem Mantel, schwarzer Kappe, Maske und Kitzbart), ist ein verliebter alter Narr, der immer wieder geprellt, geprügelt wird. Ähnlich genarrt wird der pedantische, schwatzhafte Dottore (als Maske eine kupferne Weinnase) aus der Universitätsstadt Bologna, und der stockdumme, laute Capitano. den sich Neapolitaner ausdachten. Neben diesen feststehenden Masken kommen junge Liebhaber, Väter, Onkel, Freudenmädchen und anderes Personal auf die Bühne.

Diese Bühne ist ein simples Holzgerüst. Dekorationen und Hintergrund fehlen- Der ganze Aufbau steht auf einem offenen Platz. Irgendwo liegt zu leichtem Gebrauch der Truppe ein kleines „Szenario“, das mit wenigen Worten die Handlung angibt. Streit aus Hunger, Liebe. Geiz, Verschwendung, Leidenschaft und Pedanterie, diese kleinen Handlungen laufen fast mechanisch zwischen den feststehenden Typen, wie zwischen Schachfiguren. Eine moderne Erneuerung, Deutung findet diese Handlungsmechanik in Harry Kramers „Mechanischem Theater“ (Galerie Springer, Berlin 1955), das diesen automatischen Ablauf? das „Mouvement pur“, zum Hauptereignis hebt. In der alten Commedia schrumpft der Mensch zum Typus, hier bei Kramer gefriert er zur Maschinenpuppe mit fixierten Funktionen.

Die kleinen Vorgänge, Handlungen werden durch Intermezzi, Einlagen, „lazzi“. miteinander verknüpft. Bei diesen „lazzi“ soll das Publikum zu lautem Lachen angeregt werden, denn Arlecchino und • seine Kumpanen stottern, schmatzen, spucken, bellen, wiehern, pfeifen, schmachten zwischendurch Couplets, Villanellen, parodistische Lieder, sie verkleiden sich, machen unanständige Gebärden, zeigen Kopfstand, Radschlagen, fressen Feuer, grimassieren, spritzen einander an und prügeln einander immer wieder. *

Stegreiftheater ist unliterarisches Theater, ist vitales Analphabetentum, ist Extemporieren und Improvisieren. Nur bei phantasiereichen Völkern (zum Beispiel Pomo-Indianern, Kalifornien), bei Negern und Arabern und bei hoch Gebildeten lebt diese Kunst des Improvisierens. Sie bedarf der heute so seltenen Fähigkeit, aus der augenblicklichen Stimmung zu denken, zu sprechen und zu handeln. Inspiration, Intellekt und Kunstfertigkeit produzieren dabei hohe Gebilde. So wird echter Jazz kollektiv improvisiert (die Jam-Session), „Chaconne“ heißt die Improvisation der Barockmusik, freies Phantasieren gehört zur praktischen Kunstfertigkeit der Organisten, gilt auch als Anregung zu kompositorischem Schaffen. Daneben gibt es immer wieder improvisierte Lieder (zum Beispiel Schnader-hüpfl), Schnelldichter (zum Beispiel den lateinisch dichtenden A. Marone) und Schnellmaler, wie George Mathieu, den Tachisten, dessen Fleckenbilder Berührungsakte vermerken. Schnellzeichner treten in Varietetheatern, Animierlokalen und Kabarettbühnen auf. Überhaupt gibt es Improvisation früh schon als Beruf. Improvisation befreit von Pedanterie, entschlackt, entbindet schöpferische Kräfte.

Die Commedia dell'arte ist um 1700 abgegriffen und verbraucht, erstickt in Unflat und Grobheit. Darauf versuchen Goldoni und Gozzi, jeder in einer anderen Art, eine Erneuerung der alten Commedia. Goldoni (1707 bis 1793) übernimmt zunächst die Hauptfiguren, auch teilweise das Improvisieren, er schreibt aber auch Diwfogejndießnujindie Schauspieler auswendig lernen müssen. Gozzi (1720 bis 1806), der als Bühnendichter der Truppe des Harlekins Sacri die Unzulänglichkeiten des Improvisierens kennt, entfernt sich mit seinen phantastischen Märchenstücken am weitesten von der alten Commedia.

Die Commedia dell'arte, Goldoni und Gozzi beeinflussen stark das deutschsprachige Theater.

Schon im 16. Jahrhundert beginnen italienische Wanderkomödianten, darunter die berühmte Truppe der „Comici Gelosi“, und englische Wanderbühnen um die Gunst des deutschen Publikums zu laufen, das damit zum erstenmal Berufstheater sieht. In Wien wimmelt es von italienischen Komödianten, bis J. A. Stranitzky, Schöpfer des wienerischen Hanswurst, als Prinzipal seiner „Deutschen Komödianten“ 1709 nächst dem Kärntner Tor ein ständiges Theater eröffnet. Das ist die Grundlage für zwei Jahrhunderte Wiener Volkstheater.

Josef Anton Stranitzky — er ist Steirer, Sohn eines Grazer „Lohnlaquaien“ und einer Tandlerin — kreiert mit der Figur des salzburgerischen Sau- und Krautschneiders den wienerischen Hanswurst, der mit seinen weiten, gelben Hosen, der ziegelroten Festjacke mit seinem „H W.“ aufNdem blauen Brustfleck, dem gefältelten Kragen, dem hohen, grünen Hut einem bäuerlichen Festordner, Spaßmacher ähnelt. Hanswurst extemporiert Lazzi. Im Alleingang, als komischer Räsoneur, hebt er seine hölzerne Narrenpeitsche gegen die hohen Herren der Haupt- und Staatsaktionen, er glossiert als vital-lustiger Raunzer, als Zorniger mit Backenbart, als komischer Non-konformist. Hanswurst folgt hierin dem englischen „Pickelhering“, weniger den italienischen Chargenspielern, die ja in Burlesken kollektiv extemporieren. Auch ist ihre Komis mimisch, gestisch, artistisch, während Hanswurst Wortwitze schneidet, die ins Fäkale, Sexuelle stechen und gar nicht zimmerrein klingen.

Die Wiener Komödianten kopieren schließlich die Figuren der Commedia dell'arte, das kollektive Improvisieren und auch die Burleske, als die hohen Haupt- und Staatsaktionen kein Publikum mehr finden. Nach Stranitzkys Tod spielen Prehauser und Kurz (als „Bernadon“) Hanswursts Nachfolger, bis die Vertreibung des extemporierenden Narren von der Bühne, die Gottsched mit Hilfe der Neuberin in Leipzig einleitet, auch Wiens Theater ergreift und der so moralische Staat jedes Extemporieren verbietet. Aber Philipp Hafner gelingt es, den Narren über ein Hintertürl — mit seinen Lokalstücken — wieder auf die Bühne zu lassen. Hafners „Furchtsamer“ wurde übrigens im Vorjahr während der Wiener Festwochen. gespielt, ^ heuer bearbeiteten Ruth Kerr und Gandolf Buschbeck Kringsteiners „Zwirnhändler“ für das Pawlatschentheater. — Während der 200 Jahre Wiener Volkstheater wird auf Improvisieren, Extemporieren nie ganz verzichtet. Raimund improvisiert, und Nestroy kommt- sogar wie einst der Dichter der Commedia dell'arte mit einem bloßen Szenar auf die Probe und improvisiert mit Hilfe der vorhandenen Schauspieler den Dialog. — Der amerikanische Bühnendichter William Sayron improvisierte heuer in London mit Darstellern so den Dialog zu einem neuen Stück.

Die Commedia dell'arte wirkt zwar am stärksten auf das Wiener Volkstheater, aber auch Goethe, Tieck, Brentano, der Darmstädter Niebergall mit seinem Datterich, einem nihilistischen Hanswurst, Autoren, wie Paul Ernst, Kurt Langenbeck, Friedrich Bethge, lernen von der Commedia. Wissenschaftler, wie A. Kutscher, H. Kindermann, O. Rommel, F. Hada-mowsky (deren Arbeiten hier teilweise gefolgt wird), erforschen Wesen und Auswirkung der Commedia. Das Stegreifspielen, Extemporieren, Improvisieren verzaubert, verführt immer wieder: Max Reinhard will seine Schauspieler dialogschöpferisch der Aufführung einfügen; Paul Laven fordert für den Rundfunk die „Stegreiferzählung“, Arnold Zweig den „improvisierten Roman“, Giorgio Strehler (Picollo Teatro, Mailand) wiederum gibt mit seiner Goldoni-Inszenierung („Diener zweier Herren“) der alten Commedia dell'arte eine sehr moderne Deutung. Präzise eingelerntes Spiel läuft in dieser Aufführung mechanisch, automatisch zwischen den fixierten Figuren und erreicht eine solche künstlerische Perfektion, daß es improvisiert, im Augenblick erfunden scheint.

Stegreifspiel alten Commedia-Stils aber lebt fort unter Kindern. Verkleidet mit Vaters überlangen Hosen, erhöht durch Mutters spitze Stöckelschuhe, stelzen sie Schritte im Kreis, schreien mit verstellter Stimme Begrüßungen, Höflichkeiten und bald Beschimpfungen, die überspringen zu Wiehern. Bellen, Purzelbäumen, Handstand und Kopfstand, und mit Beißen, Spucken, Prügeln, wie die alte Commedia, enden.

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