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Buntes Spiel der Phantasie

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Theater, ob ernst, ob heiter, ist immer “ „Spiel“, ist Verzauberung und zugleich Erlösung der Realität durch die bunte Scheinwelt der Phantasie. Wo dieses theatralische Grundelement vernachlässigt wird, sei es zugunsten einer allzu naturalistischen „Lebenswahrheit“, einer klassizistisch-feierlichen, die antiken Vorbilder meist mißverstehenden Farblosigkeit, oder aber auch zugunsten einer philosophischen Abstraktion, da droht immer Verarmung, Öde und Erstarrung. Besonders im Wiener Theater aber ist “die Freude an dem bunten Spiel der Phantasie der eigentliche Nährboden für die dieser Stadt eigene Theaterleidenschaft.

Shakespeares Werk verkörpert wohl das Ideal dieser spielfreudigen theatralischen Phantasie, den frischen, unerschöpflichen Quell, zu dem jede Erneuerungsbewegung unserer Bühne immer wieder zurückkehrt. Mit seiner Hilfe hat einst das deutsche Theater von der Nachahmung der französischen Klassiker zum eigenen Stil gefunden, und seit uns dann in der Romantik die glückliche, noch ungetrennte Einheit von Dichtung und Philologie die Sdilegel-Tieck-sche Übersetzung beschert, ist das Werk des großen Engländers zum unverlierbaren, wertvollen Besitz der deutschen Bühne geworden. Daher ist es ganz natürlich, daß eine von so ursprünglicher Spielfreude beseelte Gruppe junger Theaterenthusiasten, wie das „Studio der Hochschulen“, immer wieder zu Shakespeare greift und sich nun am „W i n t e r-märchen“ versucht. Wenn auch gewiß ein Studentenensemble nicht in der Lage sein kann, in dem bunten Reigen Shakespearescher Gestalten jede Rolle mit einem bewährten Charakterdarsteller zu besetzen, so ist doch das große Thema des Schauspiels in der Aufführung lebendig herausgearbeitet. Dem wirkungsvoll gestalteten düsteren Wahn des eifersüchtigen Königs begegnet der Chor der erlösenden Liebe — von der hoheitsvoll-leidenden der Königin über die tätig-treue der Paulina bis zur mädche..:haft-zarten der Königstochter Perdita. Die herzerfrischende Unbefangenheit der Rüppelszenen, die den Darstellern offensichtlich ebensoviel Freude machen wie den Zuschauern, entschädigt reichlich für den Mangel an bühnentechnischem Aufwand, den man bei einer räumlich und finanziell beschrankten Liebhaberbühne auch füglich nicht erwarten darf.

Von Shakespeares unbefangener, Antikes und Mittelalterliches in köstlicher Naivität mischender „englischer Renaissance“ führt ein weiter, doch deutlich erkennbarer Weg zur geistreichen französischen Neoromantik der Gegenwart, die Zeiten und Welten in bewußt kontrastierendem Spiel vermengt:- In der Mitte dieses Weges liegt die deutsche Romantik, in der Friedrich de la Motte Fouque sein holdseliges Märchen „U n d i n e“ schuf. Daraus hat Jean Giraudoux ein Stück gemacht, das nun in der deutschen Fassung von Hans Rothe die „wundervolle Märchenwelt“ der Romantik in einer alle Register ziehenden Inszenierung auf die Bühne des Akademietlieaters bringt. Als echte Nixe hat Undine bei dieser mehrmaligen Uberquerung des Rheins nichts von ihrer Zauberkraft eingebüßt, zumal sie in der Gestalt Käthe Golds zu uns kommt, sicher, mit der Weite ihrer seelischen und künstlerischen Aus-druchskraft nicht nur den Ritter Hans, sondern auch die Theacerstadt Wien zu erobern.

Die französische Neoromantik unterscheidet sich natürlich in vielen Zügen von der deutschen Romantik vor anderthalb Jahrhunderten. Die Akzente sind vom Geimüt-haft-Ursprünglichen mehr gegen das Intellektuell-Wissende hin verschoben. Doch kann auch dieses jüngste Kind der großen romantischen Tradition seine Herkunft nicht verleugnen. Es ist dieselbe dam Unendlichen hingegebene bittersüße Sehnsucht, dieselbe überströmende Naturseligkeit und Natur-beseelung, die Freude an der märchenhaften Verzauberung und die romantische Ironie, die das ganze Stüde durchzieht — und die vor alMem im zweiten Akt beinahe in echt romantischer Weise den Rahmen der Handlung sprengt —, überhaupt jene hintergründige EVoppelbodigkeit, das Schweben über den Gegensätzen und die allen Einfällen nachgehende Aufgeschlossenheit, wenn man will Formlosigkeit. Wohl ist die Nähe der modernen französischen Philosophie auch hier spürbar, die große Weltangst und die Todes-sebnsucht und der uns eben erst von Anouilh vorgeführte Gedanke von der Dämonie der Liebe — aber gerade diese Verbindung zeigt, ,'aß französische Neoromantik und französische Existenzphilosophie ebenso in eine geisjdge Bewegung zusammengehören wie seinerzeit deutsche Romantik und deutsche idealistische Philosophie, und daß zudem zwischen diesen beiden Bewegungen selbst tiefe geistesgeschichtliche Zusammenhänge bestehen. Wie einst im Gefolge der napoleonischen Kriege, wird auch jetzt wieder zu beiden Seiten des Rheins eine geistige Verwandtschaft und Wechselbeziehung deutlich, die zu den überraschendsten Erscheinungen der Nachkriegssituation gehört.

Während die Phantasie der Engländer, Deutschen und Franzosen in ein unendlich fernes Traumland greift, in dem das delphische Orakel neben der „Küste Böhmens“ liegt und das bevölkert ist von Nixen, Geistern und Zauberern, von Märchenkönigen, Rittern,. Schäfern, Fischern, Schweinehirten und Mägden, schlägt die nicht minder übersprudelnde Phantasie des Venezianers Goldoni die tollsten Purzelbäume auf dem festen Boden der zeitgenössischen Realität. Mit Recht nennt der „L ü g n e r“ seine luftigen Erfindungen, an die er selbst fast glaubt, euphemistisch Gebilde seiner Phantasie. Es ist eine vergrößernde, südländische Phantasie, nach Alphonse Daudet Produkt der südlichen Sonne, wie denn auch Goldonis venezianischer Lokalpatriotismus diesen Lügner und Aufschneider aus dem „Land der Sonne“, aus Neapel, kommen läßt. Die Regie, die aus den bühnentechnischen Nöten des Redoutensaals die Tugend einer einfallsreichen Inszenierung macht, unterstreicht das Stegreif-Komödiantische, indem sie den Stil aus.dem Settecento Goldonis zum Seicento der „Commedia dell'arte“ zurückverlegt. Damit wird sie allerdings Goldoni nicht ganz gerecht — ist es doch so, als ob man Raimund und Nestroy etwa im Stil von Prehauser und Hafner interpretieren wollte. Bühnenbilder und Kostüme unterstreichen diese Transponierung in eine volkstümliche, ungebrochene Farbigkeit. Man könnte sich eine zartere, mit leichterer Hand geführte, nicht grell-bunte, sondern hell-bunte Aufführung im Sinne eines Guardi, Tiepolo oder Canaletto vorstellen, die vielleicht dem Geist Goldonis und des venezianischen Rokokos noch besser entsprechen würde.

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