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Aus Shakespeares Wunderwelt

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Durch die Schlegel-Tiecksche Übersetzung gleichsam zu unserem Besitz geworden, ist die Dichtung Shakespeares aus unserem geistigen Sein nicht mehr wegzudenken. Shakespeare wird von uns wie ein eigener Dichter empfunden. Und es ist eine Welt von gewaltiger Weite und Tiefe, ein-wahrer Kosmos, der uns in den Tragödien und Komödien des Briten entgegentritt, und das Neben- und Miteinander von Reife und Naivität in Shakespeares Werken läßt sie uns als eine Welt des Wunderbaren empfinden, als ein Märchen vom Dasein, in dem alle menschlichen Leidenschaften und Konflikte sub specie aeternitatis betrachtet werden.

Unser Theater ist ohneShake-speare nicht zu denken. Nur das Spielen seiner Dramen gibt unseren Schauspielern jene Farbigkeit und Kraft der Charakterisierung, die wir aus einer hundertfünfzigjährigen Tradition heraus als notwendig empfinden. Und Wien nimmt einen besonderen Platz in der Geschichte der inneren und szenischen Eroberung Shakespeares für das Theater des deutschen Sprachgebietes ein. Mehr als Weimar hat Wien — und wohl auch Hamburg — dem Drama Shakespeares seine alle Grenzen überwindende Geltung verschafft. Und es ist kein Zufall, wenn in diesen Tagen ein Mitglied unseres Burgtheaters, Franz H ö b 1 i n g, den Versuch gewagt hat, schon jenseits des Gürtels, im Volksheim Ottakring, einen großen Abend zu geben, der ganz im Dienste Shakespeares stand, und aus „Shakespeares Wunderwelt“ die schönsten Partien aus zwölf Tragödien und Komödien des Dichters brachte.

Unwillkürlich dachte man an die Jahre nach dem Weltkriege zurück, als unter der großartigen Regie Albert Heines die großen Tragödien und Märchen Shakespeares im Burgtheater in Szene gingen, die Römerdramen, „Richard IL“, das „Wintermärchen“, um nur einige zu nennen. In ihnen gewann und erhielt sich die heutige alte Garde der Burg ihren großen Stil formvollendeter Realistik, jene alte Garde, der auch Herr Höbling angehört und die heute unter den schwierigsten Verhältnissen einen schweren Kampf ficht für die Erhaltung des Burgtheaters. Wer ermißt die Schwierigkeiten, die sich auf der für größere Aufgaben ungenügenden Bühne des Ronachergebäudes Direktor A s 1 a n entgegenstellen! Wir ahnen die Sehnsucht, die unsere besten Wiener Schauspieler haben mögen, Shakespeare zu spielen. Aus dieser Sehnsucht, so glauben wir, wurde auch Franz Höblings Abend „Aus Shakespeares Wunderwelt“ geboren, als ein Bekenntnis zur zeitlosen Dichtung, der unversiegbaren Quelle echter Kultur.

österreichisches und französisches Theater

Als vor bald zehn Jahren die Comedie Franchise in Wien im Rahmen von Theaterfestwochen ein kurzes Gastspiel gab, war man überrascht über die große Ähnlichkeit im Stil zwischen der vornehmsten französischen Bühne und unserem Burgtheater. Wie nah uns Wienern das französische Theater steht, konnten wir auch in diesen Tagen anläßlich des Gastspiels der Compagnie du K e g a i n feststellen, die im Raimundtheater zwei Molieresche Komödien, „L'A v a r e“ und „Les Precieuses R i d i c u 1 e s“, aufführte. Noch interessanter aber als die Feststellung der Ähnlichkeiten und der inneren Verwandtschaft französischer und österreichischer Schauspielkunst mußte für den Wiener Betrachter die der Nuancen und Unterschiede beider Stile sein“, der Differenz der Temperamente. Vor allem zwangen die Darsteller der Compagnie du Regain zum Nachdenken über die psychophysische Eigenart der französischen sowohl als auch der deutschen Sprache, über die Bedeutung der beiden großen Literatursprachen für unter abendländisches Denken und Fühlen. Kein Zweifel, daß der Bau der deutschen und der französischen Sprache jeweils eine andere Welt vor uns erstehen läßt; vielleicht unterscheiden sich diese Welten nur durch Nuancen — und sie bleiben auch verwandte Welten —, aber der Unterschied ist da. Und die nationale Differenz ergibt ebenfalls Variationen, die uns durchaus als Reichtum erscheinen. Es ist ein begrüßenswerter Zufall, daß gegenwärtig im Redoutensaal Mclieres „Eingebildeter Kranker“ mit Hermann Thimig gegeben wird. Es bot sich so eine geradezu ideale Vergleichsmöghchkeit. Und was“ konnten wir feststellen? „Der eingebildete Kranke“ zeigt durchaus Wiener Stil, gerade bei den hervorragendsten Darstellern. Die Gesten, die Sprache, die Art der Komik, alles läßt die l Traditionen def österreichischen Barockkultur spüren. Das Spiel ist weicher, gerundeter, der Humor hat manchmal einen leisen bajuwarischen Klang, die deutsche Sprache strahlt eine Wärme aus, die der französischen fremd ist. Bei den Franzosen ist die Sprache scharf, geschliffen, die Bewegungen von unerhörter Eleganz. Die Komik aber zeigt die ganze überwältigende Lebendigkeit des gallischen Temperaments — es dürfte wenige Komiker geben von der Urgewalt der Gestik und Selbstironie, wie sie Guy-Rivierre zum Beispiel zeigt. Wie verschieden auch die Damen! Aber dies ist wohl alles nicht erstaunlich. Österreich und Frankreich — zwei bis ins letzte geprägte und geformte Spielarten der abendländischen Kultur, der germanisch-romanischen Welt; beide dazu berufen, einander zu geben und von einander zu empfangen: diese Erkenntnis gewinnt man auch bei einem Vergleich der österreichischen mit der französischen Moliere-Aufführung.

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