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Phantasie und Wirklichkeit

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Hugo von Hofmannsthal schrieb über Raimund: „Er ist kein Literat, niemand je war es sowenig. Er ist ein Dichter.“ Und weiter: Er glaube es zu sein und wisse doch nicht, wie sehr er es ist, vor allem aber sei er ein Kind des Volks. Obwohl sich dieser Ausspruch nicht auf Raimunds Zauberspiel „Die gefesselte Phantasie“ bezieht — die derzeit im Volkstheater aufgeführt wird —, sind damit die drei entscheidenden Positionen des Stücks bezeichnet. Der Ausspruch erweist zugleich, wie zentral dieses Spiel in Raimunds Schaffen gelegen ist.

Im Wirtshausharfenisten Nachtigall ersteht das Kind des Volks, 'n Amphio, der die Liebe der Königin Hermione gewinnt, der Dichter, im Hofpoet Distichon der Literat. Raimund, in eigener Person Dichter und Kind des Volks, vereint zwei Positionen gegen die dritte: er schrieb sich da seinen Groll gegen die beckmes- sernden Literaten von der Seele, indem er zeigte, daß allein die Phantasie den Dichter zum Dichter macht. Als dieses „Wesen leichter Art“ von den bösen Zauberschwestern gefesselt wird, versagt selbst der Dichtet Amphio.

Die Hauptgeschehnisse sind bekanntlich in der Antike angesiedelt, das 1st deshalb berechtigt, da man schon damals wußte, daß die Phan- tasia den Weltgrund ahnend zu erfassen vermag. Darum geht es ja letztlich dem Dichter, ihm wollte Raimund ein Anwalt sein. Das Ineinander der Antike mit dem bie- dermeierlich vorstädtischen Wien macht nun den besonderen Reiz dieses Stücks aus. Naiver Charme wirkt hier mitunter aber auch als Schwäche. Doch sollte man niefic stets behaupten, Raimund habe da „hohe Literatur“ schreiben wollen, nur um das Stück mit dieser Etikettierung abzuwerten.

Leon Epp holt das Poetische dei Szenen mit behutsamem Griff hei- aus und wird hierin durch die in ihren Farben überaus reizvollen, vorwiegend biedermeierlichen Kostüme von Hubert Aratym unterstützt. Das ist optische Poesie. Seine Bühnenbilder zeigen eine Weiterentwicklung, bleiben aber, wie bei fast allen Malern, flächig. Heinz Conrads erweist sich in der Rolle des Nachtigall als Erzkomödiant von starker Präsenz. Erika Mottl ist eine filigrane, ätherische Phantasie. Christine Buchegger als Hermione und Hans Gratzer als Amphio sehen gut aus. Marianne Gernzner und Dolores Schmidinger fauchen und toben als Zauberschwestern, wie sich’s gehört. Egon Jordan hat das Gespreizte des Distichon, die Rolle des Narren — Walter Langer — gibt nicht viel her. Die liebenswürdig wirkende Musik von Wenzel Müller hat Norbert Pawlicki ansprechend ergänzt.

Es war in den Zeiten der Chinoise- rien als der venezianische Graf Carlo Gozzi nach einer persischen Erzählung aus „Tausendundeinem Tag“, wie es in seinen „Nichtsnutzigen Erinnerungen“ heißt, das erfolgreiche tragikomische Märchen „Turandot“ schrieb, das er für sein oe- stes Stück hielt. Es wurde nun als Gastspiel des Staatlichen Akademischen Wachtangow-Theaters Moskau im Theater an der Wien vorgeführt.

Im bizarren Prunk des alten China ersteht da eine bizarre Frauengestalt. Turandot, die Erbin dieses Riesenreichs, rächt, ins Grausame übersteigert, die Leibeigenschaft, das Sklavendasein der asiatischen Frau, indem sie, den Mann verabscheuend, über ihn durch ihren Scharfsinn triumphieren will. Diese Figur könnte die Erfindung einer toll gewordenen Suffragette sein, besäße die Hochfahrende nicht dichteiischen Reiz. Zieht man das Grausame ab, sind in Turandot die Ansätze zur modernen Frau zu finden. So aber vereinen sich in ihr bis ins Sadistische getriebene Grausamkeit mit einer die Sinne betörenden Schönheit, Klugheit und Geistesschärfe mit unbezähmbarem Stolz, bei Kalal aber, der ihre drei Rätsel löst, verbindet sich echte Liebe mit dem Willen zu sterben, wenn er das harte Herz der mehr als Widerspenstigen nicht zu zähmen vermag. Doch Turandot ergibt sich ihm.

In diesem Stück bekundet sich, ohne Einbeziehung des Wunderbaren, um ein halbes Jahr!.ändert vorweg Romantik, in der untergründig auch eine gelinde Persiflage der Geschehnisse zu spüren ist, so daß Gozzi nun mehrere Figuren der Commedia dell’arte zusätzlich im Stehgreifspiel einsetzte. Die hier gezeigte Wiedergabe schuf Jewgeni Wachtangow im Jahre 1922 als letzte seiner Inszenierungen — er starb mit 39 Jahren —, sie wurde von seinem Schüler Ruben Simonow erneuert. Die Ansätze zum Parodistischen sind da witzig gesteigert. Vor unaufdringlich expressionistischen Bühnenbildern wird in Frack und AbendKlei- dern, von einzelnen fernöstlichen Kleidungsstücken ergänzt, gespielt. Zu dieser optischen Zweischichtigkeit kommt als dritte Schicht die Harlekinsbekleidung der Commedia- dell’-arte-Figuren. Schwungvoll ironisiertes Pathos, vereinzelt echtes Gefühl und die Clownerien der „Masken“ ergeben ein abwechslungsreiches Unisono von bezaubernder Wirkung, die nicht nur durch Julia Borissowa als Turandot und Wassili j Lanowoj als Kalaf, sondern durch das gesamte Ensemble erzielt wird. Diese Aufführung hebt sich von den konform wirkenden Wiener Theatern bemerkenswert ab.

Am nächsten Abend führten die Moskauer ein zweites Stück vor, aas lyrische Drama „Warschauer Melodie“ von dem sowjetischen Autor Leonid Sorin, das, im Gegensatz zu „Turandot“, keineswegs die Entfaltung komödiantischen Theaters ermöglicht. Eine Warschauer Gesangschülerin und ein Moskauer Student lieben sich, aber sie können nicht heiraten, da die Ehe mit Ausländern, auch wenn sie aus einer anderen Volksdemokratie stammen, verboten ist. Als sie sich nach zehn Jahren wieder treffen, sind beide verheiratet und haben Karriere gemacht — aus der Gesangstudentin wurde ein berühmter Star —, nach zwanzig Jahren zeigt es sich, daß ihre Gefühle verblaßten. Sie finden nun, da ihre Verbindung möglich wäre, nicht mehr zueinander.

In diesem Zweipersonenstück sind den ganzen Abend über beide Gestalten auf der Bühne, ihre langen Gespräche verdichten und lockern sich, wirken zuweilen sentimental, hellen sich zu Heiterkeiten auf, meiden auch Gemeinplätze nicht, stellen an den Zuschauer keine hohen intellektuellen Anforderungen, vermögen aber einen ganzen Abend lang zu fesseln. In der menschlichen Landschaft gibt es keine Abgründe, und am Schluß heißt es, überall sei eine positive Entwicklung festzustellen, die jungen Leute heiraten sogar schon über die Grenzen hinweg. Unter der feinfühligen Regie von Ruben Simonow boten Julia Borissowa, die Turandot vom Vortag, und Michail Uljanow, der den Brighella spielte, vorzügliche Leistungen in der subtilen psychologischen Durchzeichnung dieser Figuren.

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