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Die Herrschaft der Clownerie?

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Das alljährlich stattfindende Berliner Theatertreffen ist kein Festival der Dichter und Interpreten, bietet kein Bühnenspektakel im großen Gesellschaftsrahmen, ist längst zu einer sozialkritischen Begegnung mit politischem Einschlag geworden und huldigt in wachsendem Maße dem neuen Star der Bühne, der diese, einem modernistischen Trend folgend, zur Manege umformt: dem Regisseur. Zwar wird der gesamte deutschsprachige Theaterraum großzügig zum Angebot, in der Auswahl beschränkt sich jedoch die zehnköpfige Jury fast ausschließlich auf Westdeutschland und Westberlin, mit einer diesjährigen Ausnahme: Zürichs „Theater am Neumarkt“. In dieser Beschränkung liegt immer wieder eine große Gefahr und eine gewisse Enttäuschung, denn die Preiswürdigkeit nur einer „bemerkenswerten Inszenierung allein rechtfertigt weder schwache Inhalte noch unzureichende darstellerische Leistungen, genügt nicht einmal als Attribut für zu Recht vorausgesetzte Akkuratesse, läßt sogar — gemessen an Vergleichen mit Darbietungen im österreichischen Raum, gelegentlich Kompetenzzweifel aufkommen.

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Das alljährlich stattfindende Berliner Theatertreffen ist kein Festival der Dichter und Interpreten, bietet kein Bühnenspektakel im großen Gesellschaftsrahmen, ist längst zu einer sozialkritischen Begegnung mit politischem Einschlag geworden und huldigt in wachsendem Maße dem neuen Star der Bühne, der diese, einem modernistischen Trend folgend, zur Manege umformt: dem Regisseur. Zwar wird der gesamte deutschsprachige Theaterraum großzügig zum Angebot, in der Auswahl beschränkt sich jedoch die zehnköpfige Jury fast ausschließlich auf Westdeutschland und Westberlin, mit einer diesjährigen Ausnahme: Zürichs „Theater am Neumarkt“. In dieser Beschränkung liegt immer wieder eine große Gefahr und eine gewisse Enttäuschung, denn die Preiswürdigkeit nur einer „bemerkenswerten Inszenierung allein rechtfertigt weder schwache Inhalte noch unzureichende darstellerische Leistungen, genügt nicht einmal als Attribut für zu Recht vorausgesetzte Akkuratesse, läßt sogar — gemessen an Vergleichen mit Darbietungen im österreichischen Raum, gelegentlich Kompetenzzweifel aufkommen.

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! Als artistische Glanznummer leitete das Württembergische Staatstheater Stuttgart mit Kleists „Käthchen von Heilbronn“ in der Regie von Claus Peymann und den Bühnenbildern von Achim Freyer das Treffen ein. (Wir berichten darüber nach dem Wiener Gastspiel nächste Woche.)

Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg bot mit Heiner Müllers Werk „Die Schlacht“ — Untertitel „Szenen aus Deutschland“ die visionären Nachtseiten, die Groteske der Barbarei, die ewig zwangvolle Wiederkehr des politischen Alptraums dar. Des DDR-Dichter Müllers Moritaten — sechs an der Zahl — dokumentierten in düsterer Einheitsdekoration (Rolf Glittenberg) Mord und Brudermord, menschliche Schlachtfeste am nationalen Feind in barbarischer Grausamkeit zu schriller musikalischer Untermalung. Das ging unter die Haut, das hatte beängstigende übernationale Aktualität und wurde leider nur durch eine völlig verzeichnete Figur Hitlers, der in peinlicher Outrage eine willfährige Germania vergewaltigte, entschärft und entwertet. Hier irrte Ernst Wendt, der Regisseur, dessen zwingender Surrealismus somit lautstarken Widerspruch herausforderte.

Nach derart tobendem Gemütsaufruhr wirkten Botho Strauß' sieben Personen, die ihren Autor unter dem Titel „Bekannte Gesichter — gemischte Gefühle“ in hilfloser familiärer Verstrickung an einem Weihnachtsabend in atmosphäreloser Hotelhalle suchten, beklemmend spießbürgerlich. Niels-Peter Rudolph (Regie) zeigte drei bundesdeutsche Wirtschaftswunderpaare, alle in gegenseitiger Verkettung und Abhängigkeit mit ihrem „Opfer“ Karl, dem siebenten im Bunde, den Doris einst mit dem Auto überfahren und aus Schuldgefühlen in den schwülen Kreis aufgenommen hatte. Einer, der Empfindsamste in diesen klischeehaften, verlogenen Alltagsbanalitäten, die mit zersetzender Stagnation den angemüdeten Zuschauer zermürben, flüchtet sich schließlich in den Superkühlschrank des Hotels und wird als Eisfigur auf die Bühne geschleppt. Die bösartige, aberwitzige Phantastik der zähtropfenden Dialoge, zunächst in brillanter Treffsicherheit übersättigte Gegenwartsproblematik spiegelnd, verebbt allmählich und zeigt deutlich die Schwächen des zum Selbstzweck erhobenen Zerrspiegels einer dekadenten Gesellschaft. Ein Traumspiel der inneren Leere und Ausweglosigkeit auf doppeltem Boden mit gedoubelter Traumtänzerin, bemerkenswert in seiner befremdlichen Thematik, nur leider zu breit ausgewalzt.

Besagtes Manko wies auch David Rudkins Arbeiterdrama „Vor der Nacht“ auf, um dessen eindringliche Interpretation sich die Künstler des Frankfurter Schauspielhauses unter Peter Löschers Regie bemühten. In trostloser Fabrikshalle (Bild: Erich Wonder) sieht man die Akkordarbeiter Birnen packen und auf ein Fließband schieben, schikaniert vom Vorarbeiter, der seinerseits vor dem Chef buckeln muß. Ein Außenseiter, der „spinnende“ verkappte Dichter Roche (eine dummdreiste, tänzelnde, tiradenschwingende Glanzleistung von Kurt Weinzierl) wird als störende Nervensäge auf offener Bühne bestialisch abgeschlachtet. Fast wäre der stille Student und gleichzeitige Kommentator des Geschehens das nächste Opfer geworden. Hubschraubergedröhn, giftig-rot herabrieselndes Pflanzenschutzmittel, Sirenengeheul und zu echtem Theaterskandal ausartende grimmige Proteste der Zuschauer, die aufgebracht die Köpfe der Juroren forderten, untermalten ein durch übertriebene regieliche Kunstgriffe überfordertes, ohnedies nicht übermäßig starkes Stück, dessen Thematik keineswegs überlebt ist, dessen banaler Wortgehalt sich aber zu Tode strampelte.

Die harmonischste Aufführung bot zweifellos das Ensemble des Berliner Schloßparktheaters. Hier hatte Niels-Peter Rudolph seinen „Onkel Wanja“ von Tschechow mit jenem morbiden russischen Zauber in quälendem familiären Einerlei angesiedelt, das durch knisternde Spannung und dumpfe Resignation zwischen so profilierten Darstellern wie Gisela Stein, Wilhelm Borchert, Hildegard Schmahl, Peter Fritz und Fritz Lichtenhahn stellenweise bis zum Herzklopfen gefangennahm. Am nächsten Abend konnte man auf der gleichen Bühne Pinters „Niemandsland“, dieses Einsamkeitsdrama zweier alter Männer (Martin Held in der Rolle des versoffenen Schriftstellers, Bernhard Minetti als begabter, gescheiterter Dichter-Dilettant) erleben. Der Regisseur Hans Lietzau bewegte seine Protagonisten, flankiert von zwei Buttlerchargen, mit unerhörter Spannung durch menschliche Abgründe und ließ bedauern, daß dieses Werk in bezug auf das Theatertreffen außer Konkurrenz lief.

Rudolf Noelte inszenierte für Münchens Kammerspiele Shaws „Arzt am Scheideweg“. Er erging sich in minutiöser, oft allerdings zu breiter und übertrieben naturalistischer Detailmalerei. Seine bevorzugte weite Bühnenflucht mit Gegenlichteffekten (Walter Dörfler) ermöglichte raffinierte Arrangements und unterstrich die koketten Gänge der intensiv-überredenden Sylvia Manas und des betont nonchalanten genialen Malerfrechlings (Klaus Maria Brandauer), ließ aber auch dem eitlen Erfolgsarzt Romuald Pekny genügend Spielbreite, die sämtliche Schauspieler des vorzüglichen Ensembles in variabler Charakteristik zu nutzen verstanden.

Eine hervorragende Gesamtleistung bot das Zürcher Ensemble in einer provokanten, da noch immer hochaktuellen Aufführung mit Friedrich Wolfs „Cyankali“, einem Katastrophenstück aus dem Berliner Arbeitermilieu des Jahres 1929 um den Paragraphen 144. Dieter Reible führte behutsam, aber desto erschütternder seine Protagonistin Hete (Verena Reichardt) in den sinnlosen Abtreibungstod. Hervorragend das Frauenensemble: Pintger, Weisse, Erdmann und die Männertypen Leiser, Berger, Kam, die sich im Armeleute-Muff auf schmuddeligen Simultanschauplätzen (Ambrosius Humm) mit realistischer Alltagsselbstverständlichkeit zwischen unsicherer Zärtlichkeit und elementarer Angst die Seele aus dem Leib spielten.

Das brisanteste Spiel aber bot das aufrührerische, in einigen Bezirken Berlins von Regierungskreisen boykottierte Jugendensemble des stadteigenen GRIPS-Theaters mit seinem aktuellsten Werk: „Das hältste ja im Kopf nicht aus“ von Volker Ludwig und Detlef Michel. Ein ohrenzerreißendes, aber gekonnt musizierendes Beat-Ensemble verbindet die losen Milieustudien aus Heim, Haushalt und Klassenzimmer und prangert die Probleme der arbeitsuchenden und von der Konsumwelt gnadenlos geknüppelten, intelligenten und kritischen Halbwüchsigen an. Nirgends so stark wie an dieser Stelle, in diesem Berlin, das sich allein durch seine Eigendarbietungen als immer wieder aufregendste Theaterstadt Deutschlands bestätigt und jedes mühsam bewerkstelligte Theatertreffen mit Fremdproduktion in den Schatten drängt, wurde die Aktualität des Wortes „Die ganze Welt ist Bühne“ derart überzeugend dokumentiert.

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