6913678-1981_18_01.jpg
Digital In Arbeit

Jagd nach dem Phantom

Werbung
Werbung
Werbung

Der Wiener Verkehrsstadtrat Heinz Nittel ist am 1. Mai einem verabscheuungswürdigen, - hinterhältigen Verbrechen zum Opfer gefallen. Und seit diesem grauen Freitagmorgen rätseln Kriminalisten und Öffentlichkeit, allen voran Politiker und Journalisten, über mögliche Motive.

Es waren und sind Gedankenspielereien, Deutungen, Vermutungen, die sich um die dürftigen Indizien ranken.

Noch bevor Kriminalisten über mögliche Motive und Hintergründe zu kombinieren wagten, nahmen Politiker den Verdacht in den Mund, daß es sich um einen politisch motivierten Terroranschlag handeln könnte.

Die simple Überlegung: Der Mord geschah am 1. Mai, am Tag der Arbeit. Das Mordopfer war ein Sozialdemokrat, noch dazu ein Wiener Stadtrat, der eine nicht unumstrittene Verkehrspolitik zu vertreten hatte, auf dem Weg zum traditionellen Maiaufmarsch der Wiener SPÖ. Ja, und dann war Nittel auch noch Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, was Anlaß zu weiteren Vermutungen sein könnte.

Dies alles zusammengenommen und die offenkundig berechnend-kaltblütige Vorgangsweise des Mörders, die wahrscheinliche russische „Makarow“-Pi- stole als Tatwaffe, von der Polizei als „typische Terroristenwaffe“ qualifiziert - rechtfertigt das nicht den eilig in den Raum gestellten Verdacht?

Oder führt nicht diese scheinbar zwingende Logik unter Umständen auf eine falsche Spur? x

Nein, ein politisch motivierter Mord soll hier nicht ausgeschlossen werden - als eine Möglichkeit, wohl aber als einzige.

Vielleicht ist der Mordtag selbst schon irreführend. Vielleicht hat der Mörder, über den man nur weiß, daß er eine NATO-Jacke, weiße Sportschuhe und unter Umständen eine braune Hose getragen hat, nicht auf den 1. Mai, sondern nur auf diese Gelegenheit gewartet: auf den „idealen«“ Mordtag.

Dieser 1. Mai war der erste Tag eines verlängerten Wochenendes. Der Mörder konnte annehmen, daß er in diesen Morgenstunden nicht auf Schritt und Tritt unliebsamen Zeugen begegnen würde.

Manche Bewohner dieser Gegend in Wien-Hietzing werden überhaupt übers Wochenende die Stadt verlassen haben. Und sonst steht man an solchen Tagen später auf.

Andererseits konnte der Mörder ziemlich sicher damit rechnen, daß Heinz Nittel, um zu den Maifeiern am Wiener Rathausplatz zu kommen, an diesem Morgen - und das unterscheidet ihn vielleicht von jedem anderen Sonntagsmorgen - das Haus verlassen mußte. Gerade auch solche Überlegungen würden ebenso zum Bild vom berechnend-kaltblütigen Mörder passen.

Seine drei Schüsse haben den Sozialdemokraten Heinz Nittel tödlich getroffen. Was aber, wenn sie nicht dem Sozialdemokraten, sondern Heinz Nittel galten?

Kein Politiker weiß, welche Feinde er hat, anonyme Drohungen erhalten so manche Politiker und Journalisten, er weiß nur um seine politischen Gegner. Vielleicht hat es irgendwann irgendein öffentliches Verfahren, eine Entscheidung gegeben, durch die sich jemand subjektiv dermaßen geschädigt sah, daß er auf Rache sann: vorsätzlich, überlegt in allen Einzelheiten.

Da sind dann all jene aus dem Täterkreis auszuscheiden, die ihre „offene Rechnung“ mit dem Wiener Verkehrsstadtrat in demokratischer Auseinandersetzung zu begleichen versuchten: auch die grünen Bürgerinitiativen, deren einzige Waffen Umweltargumente und Flugblätter sind; Menschen zudem, die für und nicht gegen die Demokratie kämpfen.

Gegen die Version eines Einzeltäters, der aus sehr persönlichen Motiven zum Mörder wurde, und für die Annahme, daß es sich um ein politisch motiviertes Verbrechen mit terroristischem Hintergründ handelt, spräche dann noch die Präzision des Mordes, die man einfach keinem Wirrkopf zutraut.

Allerdings: Terrorangriffe mit Mord und Totschlag auf unsere westliche Demokratie und ihre Repräsentanten haben ihre eigene Regie. Der Terror lebt nicht nur von der Öffentlichkeit, er sorgt auch selbst für die Erklärung des Blutvergießens, schreit sie hundertfach hinaus, will ihre Veröffentlichung sogar erzwingen.

Doch nach dem Mord an Heinz Nittel blieb es - von einigen Psychopaten abgesehen - still. Totenstill, im wahrsten Sinn des Wortes.

Und das könnte erst recht wieder auf einen Einzeltäter hindeuten, der wie jeder Mörder nur mehr ein einziges Ziel hat: nicht erkannt und nicht gefaßt zu werden.

Und wer weiß schon wirklich um die Motive dieses und all der anderen Mörder? Am Karfreitag 1980 wurde in den Morgenstunden in einem Hausflur nahe der Kärntner Straße, mitten in der Wiener Innenstadt, die 17jährige Christine Schöllerl brutal ermordet. Nichts läßt unbedingt auf einen Sexualmord schließen. Der Täter, er lebt mitten unter uns, handelte nicht minder kaltblütig. Außer dem Hinweis auf einen hellen Trenchcoat, den der Mörder getragen haben soll, gibt es nur ein vages Phantombild - und Aktenberge.

Vom Nittel-Mörder weiß man zur Stunde nicht viel mehr. Und es wird zäher kriminalistischer Kleinarbeit bedürfen, um Indiz um Indiz zusammenzutragen, um dem Mörder und seinen Motiven auf die Spur zu kommen: Es ist die Jagd nach einem Phantom.

Es ist auch die Suche nach einer Antwort, warum die Schüsse, gerade wenn es sich um ein politisch motiviertes Verbrechen gehandelt haben soll, just Heinz Nittel und keinem anderen gegolten haben, einem unter Umständen vielleicht noch prominenteren Opfer.

Politiker und Journalisten sollten, wahrscheinlich sogar im Interesse der Aufklärung, ihre Phantasie zügeln und die Erhebungen abwarten, anstatt vorschnell einer einzigen Erklärung zuzusprechen.

So ist das eben mit Gedankenspielereien: Sie sind zwar Tür die Wahrheitsfindung notwendig, voreilige Schlüsse aber sind gefährlich. Wobei wir alle hoffen, daß die Erhebungen auch stündlich die Ungewißheit dieses Beitrages überholen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung