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Politisches Porträt

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Es gibt in der österreichischen politischen, ja in der europäischen Staatengeschichte wohl kaum eine Persönlichkeit, die den Vergleich mit dem Wirken und Werk Karl Renners aushalten könnte: Wo gibt es einen zweiten Politiker, dem es vergönnt und aulerlegt war, einen Staat zweimal im Laufe seines Lebens aus der Taufe zu heben und seinen Aufstieg von entscheidender Stelle aus zu lenken? Dabei waren Renner, als er 1918 das erste dieser schweren Ämter übernahm, bereits mehr als zwei Jahrzehnte parlamentarischen Schaffens beschieden gewesen, in denen er seine Stimme zu vielen Lebensproblemen des alten Österreich und seiner reformbedürftigen Struktur erhoben hatte. Die imponierende Fülle des Rennerschen Lebenswerkes stellt ein Stück Zeitgeschichte dar, an Hand dessen wir die Probleme dieser Zeit studieren können, trug doch Renner wesentlich zur geistigen Klärung und politischen Gestaltung dieser Zeit und ihrer leidvollen Epochen bei. Da das Wirken Renners als Parlamentarier und seine Auftritte im Parlament in seiner Funktion als Staatskanzler zu den Schwerpunkten seiner so vielseitigen Aktivitäten zählten, ist es ein verdienstvoller Beitrag zu den Ehrungen des Renner-Jahres 1970, daß Heinz Fischer die mehr als 130 Reden, die Renner im Laufe seiner Tätigkeit als Parlamentarier hielt, einer Sichtung unterzogen und in einem Auswahlband vorgelegt hat. Heinz Fischer, der sich nicht nur eine Intimkenntnis des Parlaments auf Grund seiner langjährigen Erfahrung als Sekretär der sozialistischen Parlamentsfraktion erworben, sondern die in den Reden Renners behandelten Materien auch als politologisch und historisch Interessierter durchdrungen hat, versteht es, die entscheidenden Etappen und Stationen der Rennerschen Entwicklung sichtbar zu machen und durch seine Auswahl zu zeigen, wie sehr Renners Weitblick all« Probleme seines Zeitalters und die Anliegen der Zukunft erfaßt hat. Renners Reden waren zum Teil sehr lang, aber trotz dieser Gründlichkeit nie langatmig und langweilig, sondern stets auf eine Aussage von großer Tragweite und Klarheit hin konzentriert.

In den Beiträgen aus der Epoche der Monarchie ersteht Renner als der unermüdliche Warner und Mahner vor uns, der sich bemühte, das alte Österreich, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing, vor dem Verfall zu retten und seine herrschenden Kreise zum Unibau dieses Staatswesens zu bewegen. Die Forderungen nach Demokratisierung des Staatswesens und nach Lösung des Nationalitätenproblems standen für Renner in untrennbarem Zusammenhang. In dem Maße, in dem die Zeit und der hereinbrechende Weltkrieg über die Bemühungen zur Sanierung des Reiches und zur Entgiftung des Nationalitätenkampfes hinweggingen, verzweifelte Renner an der Möglichkeit, seine Ideen im Rahmen des Staatswesens, das er prinzipiell für die mögliche Verkörperung einer übernationalen Staatengemeinschaft hielt, durchzusetzen. Seine im Jahre 1917 und noch mehr die 1918 gehaltenen Reden lassen bereits die Resignation angesichts des Unvermeidlichen und Übermächtigen erkennen.

Daß es gerade der dem alten Österreich am innigsten verbundene Politiker Karl Renner sein sollte, den seine Partei nach 1918 mit der Funktion des Staatskanzlers betraute, ist eine der zahlreichen Ironien der Geschichte, die aber auch für Renners Größe und Anpassungsfähigkeit bei der Bewältigung wechselnder Aufgaben, für seine Unentbehrlichkeit und seine staatsmännische Kunst, Probleme, deren Entstehen er lieber verhindert gesehen hätte, in Angriff zu nehmen, Zeugnis ablegen. In den Reden Renners aus der Perlode seines Wirkens als Staatskanzler kommt dem auch der ganze Ernst und das Verantwortungsbewußtsein, die Renner eigen waren, zum Vorschein. Seine Erklärungen vor und nach dem Friedensvertrag von St. Germain stellen rhetorische Meisterleistungen dar, in denen die Sorge um Existenz und Bestand des neuen Staates vollendete Gestalt annahm. Die am 21. April 1920 gehaltene Rede Renners über die Koalition faßte ihr bleibendes Vermächtnis und ihren Ertrag für den österreichischen Staat zu einer Zeit zusammen, als schon dl« Wolken des Unmutes und der Entzweiung über dem mühsam bewahrten Frieden der Parteien lagen.

So sehr Renner auch ein Mann der Koalition und des Ausgleichs war, als die gegen sein Konzept gerichteten Vorstellungen Seipels und Bauers, die damals schon dl« beiden Großpartelen beherrschten, ein Auseinandergehen der Koalitionspartner herbeiführten, versagte sich Renner auch dieser neuen Situation nicht und verstand es auch in der Periode der Opposition sehr wohl, ten Namen seiner Partei zu sprechen und dabei auch in eine leidenschaftliche und polemische Form der Auseinandersetzung zu verfallen, die man dem Staatsmann von 1918 gar nicht zugetraut hätte. Doch auch Inmitten der Polemik gegen sein« politischen Gegner blieb Renner seinem Grundprogramm als Versöhnungspolitiker treu: immer wieder stimmte er den warnenden Ruf vor den Folgen der paramilitärischen Aufrüstung an und setzte er sich für Maßnahmen gegen den Bürgerkrieg ein, in den Österreich infolge der Polarisierung der politischen Kräfte hineinschlitterte. Doch die Mahnungen Renners verhallten unerhört, ja die schon zitierte Ironie der Geschichte wollte es, daß der unbeugsame Demokrat Renner durch seinen am 4. März 1933 erfolgten Rücktritt als Präsident des Nationalrates den Rücktritt seiner Stellvertreter ermöglichte und den formalen Vorwand für die endgültige Ausschaltung der österreichischen Demokratie lieferte.

Renners Saat sollte erst 1945 aufgehen. Es ist sinnvoll und angesichts so vieler enttäuschter politischer Hoffnungen ermutigend, daß am Ende der von Heinz Fischer präsentierten Auswahl Renners Rechenschaftsbericht als Sitaatskanzler, vom 19. Dezember 1945, der seiner Wahl zum Staatsoberhaupt vorausging, steht und uns als Nachfahren daran erinnert, daß sich Vernunft und Selbst-findung eines VoikesL wenn auch spät und unter Opfern, so letzten Endes doch durchsetzen. In diesem Sinne ist die politische Botschaft Karl Renners zu einem Vermächtnis an alle demokratisch gesinnten Österreicher geworden. Wer die Entwicklungen und Rückschläge dieses Prozesses etwas besser verstehen und das Erreichte würdigen lernen will, soll zu dem Auswahlband Heinz Fischers greifen, in dem uns ein großes Leben in schwerer Zeit mit dem Anspruch und Auftrag entgegentritt, im eigenen Wirkungsbereich für die Bewahrung dieses Erbes zu sorgen.

KARL RENNER, Porträt einer Evolution hg. von Heinz Fischer. Europa-Verlag 1970, 420 Seiten, S 168.—

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