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Zwei Gegner, die nichts verbindet

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In dem charakterlichen Widerspruch gegenüber Seipel wurzelt wohl auch die Abneigung Renners gegenüber Seipel. Er sagt diesem zwar nach, daß er in seiner Politik gegenüber den Nachbarstaaten „in kluger Vorsicht die Selbständigkeit und Würde Oesterreichs wahrte“ und spricht ihm „hierin wie in vielen anderen Punkten eine unbestreitbare staatsmännische Begabung“ zu. Wo Renner aber gebührend und ohne Einschränkung die Leistung des „tatkräftigen, gewandten und erfolgreichen Dr. K i e n b ö c k“, der als Finan:'.minister des Bundeskanzlers Dr. Seipel das Genfer Rettungswerk vollbringen half, ehrt, ist er aber doch nicht bereit, den Bundeskanzler Seipel an diesem Verdienst teilnehmen zu lassen. Er erhebt den Vorwurf, daß Seipel nicht einen Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, die in Opposition stand, nach Genf mitgenommen habe.

Wie weit der Standort Renners von dem seines großen Gegners Seipel entfernt war, kennzeichnet am besten Renner selbst:

„Erziehung und Charakter hatten der unbestreitbaren staatsmännischen Begabung Ignaz Seipels unübersteigbare Schranken gesetzt. Als Priester, als Professor der Moraltheologie, als leidenschaftlicher Katholik, dem die Kirche als ,ewige' Institution immer mehr galt als die zeitliche Institution des Staates, war er beherrscht von unüberwindlicher Abneigung gegen die Sozialdemokratische Partei, in der er den Todfeind der Kirche und des Glaubens sah... Bei aller menschlichen Güte und priesterlichen Würde vereinigte er mit dem dogmatischen Denken die Gabe des nachtragenden, nie vergebenden Hasses. Nun ist der Haß sicherlich eine starke Triebfeder der politischen Massenbewegung, aber ein schlechter Ratgeber der politischen Führung“ (S. 42).

Ob dies von dem Verfasser nicht an die eigene Adresse hätte gesagt werden können? Nicht wenige Stellen seiner Aufzeichnungen legen eine Bejahung nahe. Renner selbst erzählt eine Episode, die immerhin eine Korrektur seiner Darstellung des Verhältnisses Seipels zu seinen sozialdemokratischen Parteigegnern enthält. Er berichtet, wie nach dem Begräbnis Jodok F i n k s heimkehrende Regierungsmitglieder und Abgeordnete sich in einem öffentlichen Lokal trafen, auf die Abfahrt des Zuges wartend. Auf den allein an einem Tische sitzenden Renner sei Seipel zugetreten mit den Worten: „Wie mag es kommen, daß ich zu Ihrer Person niemals in ein näheres Verhältnis komme, während ich mit Ihren Parteifreunden, auch mit so entschiedenen Gegnern wie Otto Bauer, wenigstens im privaten Verkehr recht gut zurecht komme?“ Renner vermerkt, daß es damals und überhaupt niemals zu einer ernsthaften Aussprache zwischen ihm und Seipel gekommen sei. Fast immer, wenn Renner auf Seipel und sein Werk zu sprechen kommt, schlägt die persönliche Einstellung gegen Seipel durch, den er als den „hochgepriesenen

Staatsmann“ verspottet und dem er bei der Regierungsbildung im Jahre 1931 nachsagt, ihm sei die acht Mann starke Heimwehrpartei im Parlament „offenbar die Partei seines Herzens geworden, mehr noch als die 66 Mandatare der Christlichsozialen Partei selbst“. Man fragt sich, ob die wiederholt auftretende Härte der Urteile Renners über Seipel und sein Werk, diese subjektive Einstellung, die der Aufsabe auch eines Parteihistorikers widerspricht, nicht gewollte Kompensation für die ähnlich unfreundliche Behandlung des eigenen Parteigenossen Dr. Otto Bauer darstellt. Wie anders dieser Sache und Person zu unterscheiden wußte, vermerkt eine Fußnote Renners, die dankenswert feststellt, daß Otto Bauer 1938 vom Exil aus an seine Partei „die Weisung ergehen ließ, sich bei der für 13. März angeordneten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Oesterreichs an die Seite Schuschniggs zu stellen.“

Sooft man auch an einzelnen Stellen gegen die von Renner dargebotene Betrachtung Einwendungen erheben möchte, so ist doch ihr unzweifelhaftes Verdienst eine Zusammenschau, die, wenn auch von einem Parteimann aus parteipolitischer Sicht geboten, in Zukunft ein gerechtes Urteil über den gefährlichsten Lebensabschnitt der jungen österreichischen Republik erleichtert. Denn sie zerstört die vergiftende Legende von der Einseitigkeit der Schuld. Wenn die Aufzeichnungen sonst nichts Wertvolles enthielten, wären sie schon deshalb dankenswert.

In dem dritten Teil des Buches („Oesterreich und Europa“) klingt wie der letzte Klöppelschlag einer alten Glocke die Erinnerung an das übermächtige Verfassungsproblem des alten Staates auf, das Ringen um die Herstellung einer föderativen Verfassung „nach dem Kremsierer Entwurf mit dem höchst erreichbaren und eben noch zweckmäßigen Ausmaß nationaler Autonomie“, den Königsgedanken, dem schon vor mehr als fünfzig Jahren Karl Renner mit heißer Seele diente.

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