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Für ein christliches „Commonwealth“

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Man muß grundsätzlich Seipel als einen katholischen Staatsmann thomistischer Prägung verstehen. War es doch Leo XIII., der zuerst in seiner Enzyklika „Immortale Dei“ (1885) in bezug auf die französischen Verhältnisse die enge Bindung des „Altars“ an den „Thron“ löste und so eine Zusammenarbeit zwischen Kirche und Republik in die Wege leitete. Ganz im selben Sinne veröffentlichte Seipel Anfang 1918 in der deutschen progressiv-katholischen Zeitschrift „Hochland“ einen Artikel über „Das Problem der Revolution“ in dem er einer Rechtfertigung der Revolution das Wort redete. Dieser Artikel Seipels ist so besonders bemerkenswert, weil zur Zeit, als er geschrieben wurde, doch die russischen Revolutionen von 1917 seine einzigen unmittelbaren Vorbilder waren. Jedenfalls verteidigt Seipel die Revolution — sowohl politischer als auch sozialer Prägung — im Falle der Notwehr und gibt ihr sogar die Sanktion einer neuen Legitimität. Insbesondere in den kritischen Wochen der österreichischen Revolution bewies er sich als Schüler Leos XIII. Mit den sogenannten „programmatischen“ Artikeln, die er im Auftrag Friedrich Funders für die „Reichspost' kurz nach der Revolution schrieb, bahnte er für das katholische Österreich ein Republikverständnis an, ja er führte die Ohristlichsoziale Partei in die Republik. So war er dafür verantwortlich, daß in Österreich, im Gegensatz zur Weimarer Republik, die Staatsform kein Streitobjekt wurde. Also war paradoxerweise in Seipels Fall der prinzipielle Einfluß auf seine Politik anfangs wenigstens bestimmt in

Richtung einer Regierungspragmatik. Er war eben mit keiner weltlichen Regierungsform liiert, und seine leoninische Orientierung gab ihm Abstand von allen. Nur bedeutete dies eben auch, daß er auch in der Republik nur ein „Gast“ war, und dann nach dem Scheitern des akkommodativen Experiments sich so eifrig nach Alternativen zur Republik und zur parlamentarischen Demokratie umsah.

Ähnlich fand der Bundeskanzler sich in seiner Außenpolitik in einer Spannung zwischen Prinzipien und Pragmatik. Wenn auch Westeuropa als politische Einheit zu bestehen aufgehört hatte, so blieb das ganze Gebiet sein Anliegen. Wenn Seipel von „Realpolitik“ sprach, so meinte er eben nicht krassen Opportunismus, sondern ein sich „anpassen“ an die „Tatsachen“, die die Sprache Gottes waren. Im Rahmen dieser Tatsachen entwickelte er seine Staatskunst. Und in diesem Rahmen lag die europäische Bedeutung Seipels. So erklärt sich also Seipels Ablehnung der Anschlußpolitik, wenn er auch den Mächten gegenüber in seinen diplomatischen Zügen den Anschluß als politische Waffe zu benutzen wußte. „Hic Rhodos, hic salta“ („hier ist Rhodos, hier springe“), war ein oft wiederholtes Lieblingsmotto Seipels. So führt ein gerader Weg von dem Visionär eines christlichen „Commonwealth“ zu dem europäischen Staatsmann, der ein Ansehen genoß und mehr, sogar eine Machtstellung einnahm, die, wie Barbara Ward es auch ausdrückte, in keinem offensichtlichen Verhältnis stand zu dem Kleinstaat, den er vertrat. Aber was für

Seipel „Linie halten“ hieß, und er sprach oft davon, erschien der Außenwelt als ein seltsam verwickelter, ungerader Kurs.

Wie in seiner Innenpolitik, so in seiner Außenpolitik, erwies sich aber die Spannung zwischen Realität und Visionen als zu groß. Nicht einmal die allgemein anerkannte und gefürchtete Virtuosität des Kanzlers, die die Möglichkeiten einer Kleinstaatpolitik bis zum äußersten ausgebeutet hatte, konnte letztlich die Machtlosigkeit seines eigenen Staates überspringen. War es doch Mussolini, der ihn in der Südtiroler Frage daran erinnerte, daß „Österreich ist, was es ist“, Und war der deutsche Gesandte in Wien nicht berechtigt, sich über Seipels „Großmachtspolitik“ lustig zu machen? So verwandelten sich die Mühlen Gottes gewissermaßen in die Mühlen des Don Quichote, visionär, stolz, kämpferisch, verbissen. Und wie E. K. Winter schrieb, verließ Seipel die Welt im August 1932 wie ein „sterbender Löwe“.

So war Seipel letzten Endes doch ein „Staatsmann europäischen Formats“, wie sein Widersacher Otto Bauer ihn ritterlich bezeichnete. Zumindest vom Standpunkt der Forschung aus sollte er doch von der allzu sehr betonten österreichischen Parteiengeschichte befreit werden. Er gehört zur vergleichenden Forschung bezügaich christlicher Staatskunst und bezüglich Österreichs Ringens um eine mitteleuropäische Ordnung. Und in dieser Beziehung stellt Seipel noch eine wichtige Forschungsaufgabe für Historiker und politische Wissenschaftler dar.

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