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Um Stola und Schwert

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Zum erstenmal war es im Herbst 1931, am letzten Oktobertag, daß ich ihn, den großen Kanzler, besuchen durfte. Im Kloster in der Keinergasse, in seinem Heim. Und wie damals, so steht er auch heute noch lebendig vor mir: mit dem klassischen Profil; mit dem Kopf eines Senator Romanus; mit den hinter goldenen Brillen sich bergenden Augen, die so seltsam leuchten konnten; mit den steinernen Lippen, die in kraftvoller Entschlossenheit und gutmütigem Spott sich schürzen, geformt zu jenem Schnitt, der wie Keilschrift wirkte. Rätselhaft für die weite Welt, bildhaft für die kundigen Freunde.

Ignaz Seipel hieß mich Platz nehmen in einem der großen roten Plüsch-fauteuils, die sein Arbeitszimmer in Farbe und Wärme tauchten wie das rote Kollar sein hochgeschlossenes Gewand. Und ringsumher zogen Bücher und wieder Bücher dem Raum gleichsam mineralische Grenzen. Alles peinlichst geordnet und behaglich zugleich, sinnig, Sinn offenbarend für Kunst, die Seipel liebte. Denn er war, was wenige wissen, ein musischer Mensch, mit großen künstlerischen Neigungen. Debatten über ästhetische Fragen brachten ihn ins Glühen. War er wohl wenig ins Theater gekommen, war dennoch für ihn Bühnenkunst Bezeugung tiefster Dinge. An diese, im Elternhaus schon seßhafte Neigung, erinnerte auch in seinem Zimmer ein wand-abwärtsfallendes Tuch aus grünem Samt, in welches einer der Vorfahren Seipels einen russischen Kaiseradler stickte.

Seipels erste literarische Arbeiten galten auch dem Theater. Er schrieb 1903 über: „Die österreichische Theaterzensur.“ Er schrieb 1907 über: „Rechte und Pflichten der staatlichen Regelung des Theaterwesens.“ Er gab 1911 eine Bildermappe heraus. Und Ergebnis davon: mit seinen Kunstbestrebungen stand Seipel, charakteristisch für ihn, gegen den sogenannten „integral-katholischen“ Gralskreis in Wien. Bewegt von der paulinischen Freiheit vom Gesetz war Seipel Feind jeglichen Versuches, das Christentum auf eine einzige Kultur- und Kunstformel zu bannen. Seipel war „liberal“, aufgeschlos-. sea. Auch in der Wirtschaft, in der Wirtschaftsethik, in der Wirtschaftspolitik!

Ursprünglich hätte sich Seipel in Dog-matik habilitieren sollen. Die klaren Definitionen packten ihn. Doch es kam anders! Auf Einladung seines Lehrers Franz Martin Schindler, des großen Moralisten, kam Seipel zur „Moral“. Für die ersprießliche Wahl eines Habilitationsthemas schlug Schindler dem jungen Seipel vor: „Lesen Sie Theo Sommerlads ,Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters'.“ Seipel tat es wohl auch und so erwuchs in einem kritischen Vis-a-vis zu Sommerlad seine Habilitationsschrift: „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“, welche 1907 erschienen. Trotz anfänglichen Beifalls jedoch rückte Schindler nach 1907, bezeichnend für die innerkatholische Sozialkontroverse vor dem ersten Weltkrieg, von den letzten Folgerungen Seipels ab. Bei Schindler wirkt damals noch die Ideenwelt des Vogelsang-Kreises nach; der große Gelehrte hätte zu dieser Zeit, erzählte mir der Altkanzler, damals noch zu „Zünftlerisches“ in seinen Wirtschaftsauffassungen gehabt.

„Es gibt aber keine Wirtschaftstheorie der Kirche“, rief Seipel aus. Er rief es so leidenschaftlich aus, weil er sehr genau — vom Standort der Kirche aus — um die Relativität aller Dinge und Begriffe in sociologicis wußte. Und er wußte — mit Leo XIII. — sehr genau um die ecclesia et theologia accomodadita auch in politischen Fragen. Und so wurde er, Ignaz Seipel, der Meister der politischen Dialekt, der klassische Dialektiker der politischen Theologie.

Seipels große Politik wies vier Kurse aus: der erste, der „großösterreichische“, spielte in der Monarchie. Mit Lammasch, dem Völkerrechtslehrer und Pazifisten, arbeitete Seipel an ihrer Reorganisation. Beitrag hiezu waren: sein Vorschlag für die „Reform der österreichischen Verfassung“, Oktober 1917, sein Eintritt als Sozialminister in Altösterreichs letztes Kabinett Lammasch, Oktober 1918, vor allem aber sein Buch, welches die Vorrede seiner Aktionen war, sein Buch: „Nation und Staat“, 1916.

Seipel wollte damit — wie er gerade heute vor 18 Jahren mir berichtete — Klarheit in die ersten Friedensdiskussionen bringen, welche der in österreichischen Fragen leider unklare Präsident Wilson eingeleitet hatte. Und Seipel wollte — wie auch gleichzeitig, 1916, Bundespräsident Karl Renner in seinem Buch: „Österreichs Erneuerung“ es tat — die Notwendigkeit, ja die Naturgesetzlichkeit des Völkerreiches an der Donau, die Idee Österreich, auch fiir die Zukunft demonstrieren. Augustinus ähnlich, der in seiner Civitas Dei das ausgehende Römerreich zusammenschaute, durchlebte und durchlitt Seipel in seinem Werk „Nation und Staat“ das zweite Römer-reich, das alte Österreich, das er auch dann noch liebte und schätzte, als es zusammenbrach. „Nation und Staat“, ein literarisches Denkmal für Altösterreich, wurde nun auch sein Impuls für das neue.

So ist Seipel nach dem Umsturz 1918 Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung Restösterreichs. Er ist 1919 Vizepräsident der Staatskommission für Sozialisierung und 1921 Obmann der Christlichsozialen Partei. Damit setzte Seipels zweiter Kurs ein, der sogenannte „Links“-Kurs. Dieser beinhaltet „republikanisch-sozialistische“ Konzessionen, um Einseitigkeiten, Monopole in der Wirtschaft, Monologe in der Politik, vermeiden zu helfen. Seipel forderte geordnete Sozialisierung, das ist: Einzelsozialisierung zur Förderung der „wirtschaftlichen Lage des Volkes“. Und Seipel forderte, und er wiederholte diese Forderung bei der Zehn-Jahr-Feier der Republik auf dem Boden der Wiener Universität — die „Res publica“, den Staat als Gemeingut aller, nicht aber als res privata irgendeiner Klasse oder Partei.

Den dritten Kurs erfüllte Seipels Kanzlerschaft 1922 bis 1924. Seipel gelang, was ihm den Titel „Vater des Vaterlandes“ einbrachte, Österreichs „Sanierung“ — jedoch im Anschluß an Völkerbund und Westkapitalismus. Das bedingte innerpolitisch allerdings: die „bürgerliche Einheitsfront“, den sogenannten „kapitalistischen“ Kurs. An sich verteidigte Seipel wohl nicht den Kapitalismus. Aber als gegebene Wirtschaftsweise hielt er den Kapitalismus relativ in Ordnung und akzentuierte gegenüber seinen Kritikern intra muros in dialektischer Weise „Ecclesia catholica vivit modo capitalistico!“

Seipels vierter Kurs, seine Kanzlerschaft 1926 bis 1929, erstrebte „autoritäre“ Verfassungs- und „ständische“ Gesellschaftsreform. Seipel näherte sich der „Heimwehr“, um sie von radikalen Putschideen abzulenken. Sein sogenannter „Rechts“-Kurs, die Verfassungsreform 1929, die Folge davon, war ebenso ein Versuch, die Zone der Mitte zu sichern, wie sein sogenannter „Links“-Kurs von ehedem.

1930 schied Seipel aus der Politik, noch mit der Attentäterkugel in der Brust, leidend an Diabetes und Tuberkulose. Da erschien 1931 Quadragesimo anno, die Seipels Ständedefinition fast wörtlich rezipierte. Der Propaganda dieses Rundschreibens galt nun sein Lebensrest. Fünf Tage vor seinem Tode, am 2. August 1932, sprach Seipel: „Noch eine große Aufgabe hatte ich zu erfüllen. Quadragesimo mußte ich in Österreich zum Durchbruch verhelfen. Und das ist geschehen. Damit waren auch meine letzten Kräfte ausgeschöpft und der Schlußpunkt meiner Lebensarbeit gesetzt, wie ausgerechnet.“

Aber auch dieser Kurs, der „korporative“, war für Seipel, der ein Atheist aller sozialen Götter war, gewiß auch nur ein Provisorium. Ich erinnere mich an folgendes: 1919 war's. Ich war damals noch Gymnasiast und hörte Seipels Vorlesungen über die „Soziale Frage“ an der theologischen Fakultät. Und nach einer solchen Vorlesung bat ich einmal Seipel, er möge Vogelsangs berufsständischen Entwurf doch auch behandeln. Seipel gab mir die gelassene Antwort: „Mein junger Freund, ich halte das nicht für notwendig!“ Für Seipel waren eben alle diese Formen, diese Kurse von Links bis Rechts, von Rechts bis Links, keine sozial-theoretischen Entscheidungen, sondern moraltheologische Erwägungen, keine Endgültigkeiten, sondern Möglichkeiten, mit und in diesen Formen seinem Priestertum zu dienen.

Freilich empfand er, wie selten ein geistlicher Staatsmann, die Problematik dieser Pastoral. Seipels Tagebücher zeugen auch davon! Sie entschleiern ein Renibrandtsches Seelengemälde, welches in einem breiten Oval um die Brennpunkte seiner beruflichen Doppelstellung schwingt: um Stola und Schwert. Existentiell aber war Seipel — Priester und nur Priester! Das zu sein,.und daran siech zu sein, das war die große Liebe, die Vorliebe seines Lebens. Eine andere kannte er nicht. Er kannte und liebte nur eine

Frau, die ihm Braut und Mutter zugleich war: die heilige römisch-katholische Kirche. Die Marmorblässe seines Angesichts, das er bei allen anderen Fragen in jeder Faser mühelos beherrschte, verfärbte sich in brennendes Rot, wenn er von dieser Liebe sprach oder sie gar in Gefahr wähnte. Auch wurde diese Leidenschaft verschärft durch seine persönlich geprägte Erkenntnis von der seelen-sanieronden Funktion der Kirche, von der Notwendigkeit einer Geistes- und

Gesinnungsreforr vor jeder Zuständereform.

Entscheidend für Seipels Fühlen und Denken war der Satz, den er in seiner letzten Rede auf dem Boden der Alma mater Rudolfina, am 9. Mai 1931, am Tage seiner Promotion zum Ehrendoktor der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät prägte: .Ich bin ein Mann der Kirche“! Das ist auch der Nagel, an dem seine Wissenschaft und Politik befestigt war.

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