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Der letzte k. u. k. Ministerrat

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Schicksalsjahre Oesterreichs 1908 — 1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs. 2. Band. Bearbeitet von Fritz Fellner. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Graz-Köln.

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Schicksalsjahre Oesterreichs 1908 — 1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs. 2. Band. Bearbeitet von Fritz Fellner. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Graz-Köln.

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Die Tagebuchaufzeichnungen Josef Redlichs, die der 2. Band der von Fritz Fellner besorgten Ausgabe enthält, umfassen mit den Jahren 1915—1919 eine Periode inhaltsschweren, weltgeschichtlichen Geschehens. Sie werden ergänzt durch eine abschließende Biographie des Tagebuchschreibers und ein wertvolles Personenregister. Das Diarium erreicht in dem 2. Bande seine Höhe, in vielen Details die wichtige Aussage eines Zeugen, der als Politiker staatsmännischen Formates in dieser ereignisvollen Zeit zuweilen Mitspieler und immer in der Nähe der politischen Ereignisse war.

Eine wehmütige Tragik umspielt dabei die Schicksale Josef Redlichs. Hochgebildet, ein guter Sprecher und geistreicher, feiner Stilist, widmet er sich der akademischen Laufbahn. Doch ein leidenschaftlicher Drang lenkt ihn zu der hohen Politik. Der eigenwillige, kritisch veranlagte Individualist vermag sich nicht einer der herrschenden parteipolitischen Mächte einzuordnen. Er bleibt ein interessanter Einzelgänger, dessen Urteil man gerne hört und dessen reiches Wissen man gelegentlich zu Rate zieht. So ist er auf dem parlamentarischministeriellen Parkett lange ein Kommender, der aber doch nicht kommt. Bis er endlich berufen wird, als der alte Staat noch Männer braucht, die tapfer genug sind, den vereinsamten Versuch zu unternehmen, aus dem zusammenbrechenden Haus die letzten Werte zu retten. So wird Redlich mit Lammasch und Seipel Mitglied einer Regierung der Liquidation des sich der Auflösung nähernden Staates und Mitglied des letzten „kaiserlich-königlichen Ministerrates".

In Bayern war bereits die Republik ausgerufen. Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt und war geflohen. Der stolzen deutschen Kriegsflotte und des Hamburger Hafens hatte sich ein Revolutionsrat von Rebellen bemächtigt. Ueberall flammt Umsturz auf. Nun fallen in der zweiten Novemberwoche 1918 in Wien die letzten Entscheidungen. Von Sonntag, den 10. November, V2I Uhr abends, bis in die zweite Morgenstunde des montäglichen 11. November dauert der Ministerrat, der sich mit dem fälligen funebren Staatsakt der formalen Resignation des jungen Kaisers und der Abfassung einer Abdankungsproklamation beschäftigt. Redlichs Tagebuchaufzeichnungen erhalten hier eine ergreifende Note:

„per erste Teil dieser Proklamation", berichtet Redlichs Tagebuch, „beruht auf einem Eltwurf Renners, den Lammasch mitgebracht hatte, der zweite Teil auf einem von Lammasch und Ehr- hart nach meinem vortägigen Entwurf gearbeiteten Vorschlag: die Mehrzahl der umstrittenen Sätze ist in der teils von Seipel, teils von mir vorgeschlagenen Wortsetzung angenommen worden. Lammasch, ich, Seipel, und ein wenig später auch Wieser, führten die Debatte. Der Verlauf der ganzen Sache war der, daß Lammasch, noch in der Samstagnacht von Schönbrunn zurückkehrend, dann in der Früh des Sonntags mit Seitz und Renner gesprochen hatte, daß Renner versprach, uns von den entscheidenden Vorgängen rechtzeitig in Kenntnis zu setzen oder selbst zu kommen, was dann auch am Sonntagabend geschah. In dieser Stunde teilte Renner mit, daß der (deutschösterreichische. Der Verfasser) Staatsrat am Montag die Grundgesetze, und darunter an erster Stelle die Gesetze über die Errichtung der Republik, beschließen werde. Wir hatten das Bestreben, für die daraus sich ergebenden Alternativen vorzusorgen, indem wir befürchteten, daß Montag die „Straße" die Republik proklamieren könnte oder die „Rote Garde" nach Schönbrunn kommen und den Kaiser zur Abdankung zwingen könnte. So wollten wir auf alle Fälle den Kaiser vorbereitet haben und deshalb fuhren Sonntag abend Lammasch und Gayer zum Kaiser hinaus und zeigten ihm den bis dahin vollendeten Teil der Proklamation. In der Nacht — nach dem Besuche von Renner und Seitz in der Herrengasse, wobei diesen unser Entwurf vorgezeigt und von ihnen für genügend befunden wurde (doch schlugen sie die Sätze vor, die jetzt den ersten Teil der Proklamation ausmachen) — ist sodann die Abdankungsproklamation fertiggestellt und am Montag früh von Lammasch dem Kaiser gebracht worden, der ein Exemplar — und zwar ein Brouillon — mit Bleistift unterschrieb. Wir hielten Ministerrat von V2 1 1 bis Vt 2 Uhr, worauf ich zum Essen fuhr, das Herz ganz voll von der schrecklichen Prozedur des letzten k. k. Ministerrates, der mit unserer protokollierten Bitte an den Kaiser um Enthebung endete.

Als Banhans an Lammasch Worte des Abschieds richtete, begann er zu weinen, und Lammasch antwortete schluchzend und die Tränen rannen ihm über den weißen Bart, als er sagte, er habe diese schwerste Aufgabe seines Lebens übernommen, nachdem er früher zweimal das Ministerpräsidium abgelehnt hatte; aber diesmal mußte er annehmen, weil er hoffen durfte, dem Kaiser in diesen schwersten Tagen von Nutzen zu sein. Er dürfe auch sagen, daß er glaube, daß di Regierung den Kaiser geschützt und ihn auf diesem traurigen Weg noch geleitet habe. Die Ereignisse in der Welt seien so überstürzend und übermächtig gekommen, daß ein anderer Weg nicht möglich war. Wir alle, hatten Tränen in den Augen, zumal Banhans und Gayer tief erregt; auch in Wiesers Augen standen Tränen."

So manche Niederschrift Josef Redlichs aus dieser Zusammenbruchszeit wird zu einer aus tiefem Gemüte aufklingenden Elegie.

In dem jähen Gefälle der Ereignisse, in dem heute nicht mehr gilt, was gestern die Feder des Tagebuchführers als Tatsache, als sichere Voraussage, als Kritik verzeichnete, wird manches Gesagte überholt und korrigiert. Dann strauchelt das eilig geschöpfte Urteil des Tagebuchschreibers. Ueber die Grenzen kaiserlicher Macht, so die Franz Josefs in solcher Zeit, gibt er sich zuwenig Rechenschaft. Er setzt von dem jungen Herrscher die Fähigkeiten eines erfahrenen Staatsmannes voraus, wenig darauf achtend, daß der junge Kaiser vor die Aufgabe gestellt war, ein in seinen Grundfesten zitterndes Reich zu retten, dessen Verteidigungskraft erschöpft und eine Lage geschaffen war, in der die Gewissenhaftigkeit und der redliche gute Wille des jungen Kaisers nichts mehr vermochten.

Zusehends verschärft sich in den letzten Jahren des Diariums die kritische Zeitbeobachtung Josef Redlichs. Es mehren sich scharfe Aburteile über Persönlichkeiten. So die auffallend falsch gerichtete Charakteristik des Generals Stjepan Sar- kotic. Doch wie sollten in einem solchen Wirbeltanz der Geschehnisse nicht Irrtümer unterlaufen!

Eine Lektüre, die dieses Vorbehalts gewahr ist, wird viele wertvolle Erkundungen aus dem Tagebuch schöpfen, gemeinhin unbekannte Details, die aus wenig anderen Quellen in solchem Reichtum fließen.

Fritz Fellner sagt in seinem schönen Nachwort, in dem er die letzten Lebensjahre Josef Redlichs schildert, der am 11. November 1936 das Zeitliche verließ: „Ein tiefer Pessimismus hatte den Lebensabend Josef Redlichs gekennzeichnet. Für ihn war

— das erkannte er. in seinen letzten Lebensjahren

— ein Weltbild zerbrochen und waren die Voraussetzungen für die Erfüllung seiner Lebenskultur zerstört worden."

Den Aufzeichnungen des Tagebuchs vom 29- August 1915 ist eine angebliche „Denkschrift Dr. Funder" (S. 58—60) beigeschlossen, die Redlich von dem gewesenen Ministerpräsidenten Doktor Ko erber erhielt. Der in Maschinenschrift hergestellte Text ist ein hanebüchenes. Erzeugnis, das in handgreiflichem Gegensatz zu den damals wie heute von mir vertretenen politischen Anschauungen steht. Ich habe von diesem Machwerk zum ersten Male jetzt aus dem Tagebuch Redlichs erfahren. Von wem es Koerber erhielt, mit dem ich keine persönlichen Beziehungen hatte, weiß ich nicht. Uebrigens beruht auf einem Irrtum auch Redlichs Tagebuchvermerk (S. 58), ich hätte an Konferenzen über ein von General Bardolff abgefaßtes politisches Programm teilgenommen, die in der Wohnung des Freiherrn Leopold Chlu- metzky statti&nden. Ich war niemals in dieser Wohnung und mit dem angeblichen Programm Bar- dolffs, -das im Sommer 1915 Gegenstand von Konferenzen gebildet habe, war ich nie befaßt.

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