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Heinrich Lammasch

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Nun, da allen Hindernissen zum Trotz die große Idee eines allgemeinen Bundes der zivilisierten Menschheit gegen die unrechtmäßige Gewalt und die Gelüste der Starken zum Schutze des Völkerfriedens eine feste Realität geworden ist und die UNO den ersten Versuch eines Völkerbundes verbessert, gebietet es Dankbarkeit, eines Mannes zu gedenken, der Führer und Bahnbrecher war für das moderne Völkerrecht tind für die konstruktive Sicherung des Weltfriedens: Heinrich Lammasch, den großen Denker und Lehrer; ihn hat das alte Österreich noch vor seiner Abdankung als politische Großmacht der Welt geschenkt, als ob es damit die geistige Bedeutung dieses Landes für immer den Menschen vor Augen halten wollte.

Am 21. Mai 1853 zu Seitenstetten in Niederösterreich als Sohn des Notars Doktor Heinrich Lammasch geboren, brachte er seine Jugendjahre in Wien zu, wo er auch am 19. Dezember 1876 die Würde des Doktors der Rechte erlangte. In den Jahren 1877 und 1878 rundete er seine Ausbildung durch Besuch der Universitäten Heidelberg und Berlin ab und durch längeren Aufenthalt in Paris und London. Hier empfing Lammasch Weltgefühl und öffnete sein geistiges Auge jener Sphäre, die später das Feld für seine Arbeit als theoretischer Schriftsteller wie als Praktiker der Außen-diplomatik und des internationalen Schiedsgerichtswesens geworden ist. Zurückgekehrt, erlangte er auf Grund der Schrift: „Das Moment objektiver Gefährlichkeit im Begriffe des Verbrechensversuches“ (1879) die Dozentur für Strafrecht an der Universität Wien. In dieser Arbeit kam bereits Lam-maschs Grundrichtung in der Beurteilung des strafbaren Handelns der Menschen zum Ausdruck. Nicht das Außenbild einer Untat allein, die Tatbestandsmerkmale, seien bestimmend. Auch die psychische Erklärung aus einer unglücklichen Veranlagung des Täters könne nicht den Maßstab für die Aufstellung der Verbrechensbegriffe und für ihre Strafwürdigkeit abgeben. Vielmehr sei das Schwergewicht auf die im Verbrechensverstiche zutage getretene böse Absicht zn legen, also auf die konkret gewordene psychische Erscheinung in der Mentalität des Versuchenden. Auch spätere Arbeiten und die sehr tief gehende Einwirkung auf den Entwurf eines modernen Strafgesetzes für Österreich ruhten auf der psychologisch-subjektiven Auffassung über das Wesen der Verbrechen und ihre Strafwürdigkeit.

Schon nach drei Dozentenjahren wurde Lammasch außerordentlicher Professor in Wien, wieder nach drei Jahren (1885) ordentlicher Professor in Innsbruck für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht. Er vermählte sich zu glücklichster Ehe und brachte vierzehn Jahre in Tirols schöner Flauptstadt zu. Hier neigten sich seine schriftstellerischen Arbeiten immer mehr dem Gebiete des Internationalen zu. Ein großes Werk: „Auslieferung-pflicht und Asylrecht“ und die auch bürgerliches Recht ergreifende umfangreiche Schrift „Rechtshilfe undAus-lieferungsverträg e“, beide 1887, bewegten sich in Gebieten des internationalen Rechtes und des Völkerrechtes. Seine strafrechtlichen Lehren faßte Lammasch in dem erstmals 1899 erschienenen „Grundriß des österreichischen Strafrechtes“ zusammen, ein Buch, das in wiederholter Neuauflage das tägliche Brot des österreichischen Strafrechtsjuristen geworden ist. Im weiteren herrschten in den überaus zahlreichen Veröffentlichungen immer mehr das internationale Recht und die großen Aufgaben des Völkerrechts vor. Allerdings ging paralell damit die Arbeit für ein neues Strafgesetzbuch. 1912 wurde der .Entwurf — dessen Haupturheber Lammasch war — von der Regierung dem Herrenhause vorgelegt. Lammasch — seit 1899 Mitglied dieses Hauses — vertrat ihn in glänzender Rede, der Entwurf wurde angenommen, doch gelangte er im Abgeordnetenhause nicht zur Behandlung und blieb liegen.

Zu der Tätigkeit als Lehrer und Schriftsteller hatte sich seit 1899 bedeutsam eine zweite gesellt. In diesem Jahre war Lammasch von der Regierung als Sachverständiger de Völkerrechts der sogenannten (ersten) „Friedenskonferenz“ im Haag beigezogen worden. Diese war auf einen Vorschlag des russischen Zaren hin einberufen worden und weckte in allen Kreisen der Friedensfreunde die Hoffnung, nun sei ein Weg beschritten, der endlich einen Weltfrieden anbahnen könnte. Auch der zweiten Friedenskonferenz im Haag (1907) gehörte Lammasch an. Ihren Verlauf empfand er überaus unbefriedigend. Das ihm am wichtigsten Erscheinende, die Aufstellung des Gebotes, keine Macht dürfe zu einem Kriege schreiten, ohne vorher die internationalen Einrichtungen zur Entscheidung staatlicher Streitigkeiten in Anspruch genommen zu haben, also insbesondere den im Haag bestehenden internationalen Schiedsgerichtshof: Die „Cour d'arbitrage“ scheiterte.

Es wäre 1907 gelungen, den Grundsatz der obligatorischen Anrufung des Schiedsgerichtshofes zur Annahme zu bringen, wenn nicht Deutschland durch seine zwei angesehenen Delegierten Marschall und Kriege es verhindert hätte. Wie sich sooft und bis in die jüngste Zeit erwiesen hat: Die Reichsdiplomatie machte nicht deutsche, sondern preußische Poltik.

Lammasch war durch die doppelzüngige Haltung der deutschen Konferenzteilnehmer tief verletzt. Immer mehr sah er das große Übel von Europa in dem „G eiste von P o t s d a m“. Ihm schien daher auch die Bindung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik durch das Bündnis mit Deutsdiland eine Gefahr zu sein, die über kurz oder lang die Habsurbgermonarchie in einen ihr nicht gemäßen, unerwünschten Krieg hineinreißen würde. Als der Krieg da war, sprach Lammasch von der Tribüne des österreichischen Herrenhauses aus zur Welt. Er hielt die Aufsehen erregenden drei „Friedensrcden“ (28. Juni, 27. Oktober 1917, 28. Februar 1918). Dringendst empfahl er, Österreich möge durch die Person des Präsidenten Wilson, trotz des tobenden Kampfes, die Hand hinreichen zum Abschluß eines gerechten, eines Versöhnungsfrieden ohne Annexionen, mit Gleichberechtigung aller Nationen. grundsätzlicher Entscheidung von Staatsstreitigkeiten durch einen internationalen, aus gerechten Männern bestehenden, unparteiischen Gerichtshof und allgemeiner Abrüstung. Diese großen, heiligen Gedanken suchte er durch eine Reihe bedeutsamer Werke zu verbreiten.

Seinem Eintreten für internationale Schiedsgerichtsbarkeit verdanken ihre Entstehung die Schriften über „Isolierte und institutionelle Schiedsgerichte“, über „Die Rechtskraft internationaler Schiedssprüche“ und das zweibändige Buch „Die Lehre von der Schiedsgerichtsbarkeit in ihrem vollen Umfange“.

Als unter dem Eindrucke der endlosen Verletzungen des Völkerrechts r e i c h s-deutsche Rechtslehrer es zum Dogma erhoben, das Völkerrecht sei überhaupt erloschen und es werde nicht wieder zum Leben erwachen, stellte sich Lammasch dieser verderblichen, menschheitswidrigenLehre entgegen. In einem 1917 vom Nobel-Institut in Christiania herausgegebenen Buche: „Das Völkerrecht nach dem Kriege“ prophezeite Lammasch dem Völkerrechte eine neue hohe Blütezeit, nicht durch revolutionären Umsturz, sondern durch organische Fortentwicklung. Aus Seele, Geist und Herzen der gutgesinnten Menschen aller Völker der Erde müsse der neue Rechtsinhalt emporwachsen. Gerechte Ausgleichung und der Wille zum Frieden als dem Normalzustand der Menschheit müßten ihre segensreiche Herrsdiaft antreten. Dabei dachte er vor allem an den damals vor seiner Gründung stehenden Völkerbund. Diesem waren zwei Schriften gewidmet. Lammasch entwarf einen „Staatsvertrag“ für den Völkerbund zur Erhaltung des Friedens.

Obgleich ihn die keine wahre Friedensstimmung in sich tragende Gebarung des Genfer Völkerbundes enttäuschen mußte, war doch auch das letzte Werk seines Lebens, das nach seinem Tode von mir herausgegebene Buch „V ölkerbund oder Völkermord“ (erschienen 1920 bei s e r u n g des Völkerbundes gewidmet.

Enthielt nicht schon jener Titel das Gedankenbild einer Welthoffnung und einer Weltgefahr? Schriebe Lammasch heute dieses sein Werk, er könnte ihm keinen Titel geben, der mehr in die Zeit passen würde. Er würde es begrüßen, daß in der UNO ein praktisch tätiger Körper vor uns steht, dessen Aufgabe und Wille dahin gerichtet sind, künftigen Völkermord, wie ihn die letzten Jahre vor 1946 def schaudernden Mitwelt gezeigt haben, zu verhindern und zu einem Wcltfrieden zu führen, von dem man bisher in großen Worten geredet hat, ohne ihn wirklich ehrlich zu wollen und wirksam nach ihm zu streben. Recht, Gerechtigkeit, Rechtspflege wollte Lammasch an die Stelle von Gewalt, Krieg, Blutvergießen gesetzt wissen. Daher sein kraftvolles Eintreten für die Schlichtung staatlicher Streitfälle durch sachkundige, unparteiische internationale Gerichte. Seine warme Liebe für diese Einriditung der Völkergerechtigkeit war nicht die nur literarisch verfochtene Idee eines Theoretikers. Sie entsprang gediegenster praktischer Erfahrung.

Wie kein anderer Mann auf Erden war Lammasch Weltschiedsrichter gewesen. Und zwar in politisch heiklen und wirtschaftlich bedeutsamen Streitsachen. Die Cour d'arbitrage im Haag war kein ständig tagender Gerichtshof, vielmehr nur eine Art Richterliste, aus der hei entstehendem Staatenstreit Schiedsrichter ausgewählt und ernannt wurden. So wurde Lammasch im Streite von England und Deutschland gegen Venezuela als Mitrichter, in drei folgenden großen Sachen als Präsident berufen. Es waren dies der sogenannte „Maskat-Streit“ zwischen England und Frankreich, dann der „Orinoco-Fall“ zwischen den Vereinigten Staaten und Venezuela und — die größte und wichtigste von allen Sachen — der über ein Jahrhundert alte Streit zwischen der nordamerikanischen Union und England über die Fischereirechte an den atlantischen Küsten und auf den Seen in Nordamerika. In allen drei Sachen verfaßte Lammasch den Schiedsspruch und erfuhr die Genugtuung, daß nicht nur seine Mitrichter, sondern auch die gesamte Außenwelt den Spruch als gerecht und sachgemäß würdigten und priesen. — Ich erinnere mich dabei der Worte, mit denen bei einem von Amerika und England im Wiener Hotel Metropole gegebenen Festessen, dem ich beiwohnte, die Botschafter der beiden im Streite gewesenen Großmächte dem Österreicher Lammasch als hohen, gerechten Mann und als die ideale Verkörperung eines Weltrichters huldigten.

Konnte Lammasch auf diesem Gebiete seines Wirkens sich vollen, schönsten Erfolges erfreuen, so ist das Bild, das sich uns bei Betrachtung seiner Tätigkeit als Ministerpräsident zeigt, der in letzter Stunde an das Sterbelager seines Vaterlandes berufen worden war, ein trübes, trauriges. Nach dem Scheitern des von Max Hussarek als Ministerpräsident gemachten Versuches, die auseinanderstrebenden Völker der Monarchie durch ein Manifest, in dem Völkerautonomie unter Leitung seitens des Kaisers in Wien angeboten wurde, noch zusammenzuhalten, gescheitert war, wurde der letzte,noch nicht abgebrauchte, im In- wie Ausland vollstes Vertrauen genießende Mann mit der Bildung einer Regierung beauftragt, Heinrich Lammasch.

Aber es war zu spät. Der Todeskeim hatte den Körper der habsburgischen Monarchie bereits bis in das innerste Mark ergriffen, Heilung war nicht mehr möglich. Die, wenn es sich um staatserhaltende Dinge gehandelt hatte, uneinig gewesenen Völker der Monarchie waren nun einig geworden, ihren gemeinsamen Staat zu zerstören. Jedes Einzelvolk hatte sich sein nationales Haus schon zurechtgezimmert; in das wollten sie nun, einander den Rücken wendend, einziehen. Niemand wollte bleiben, alle wollten gehen. Lammasch hatte daran gedacht, einen Waffenstillstand zu erlangen, die Wien und den Alpenländern drohende Hungergefahr durch Hilfe seitens der landwirtschaftlich guten Gebiete von Böhmen, Mähren und Ungarn abzuwenden und sodann die parlamentarischen Parteien zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Aber nach wenigen Tagen erkannte er die Unmöglichkeit, diese dringendsten Aufgaben zu erfüllen. Im Sturmschritte nahm Österreichs Geschichte ihren unheilvollen Gang. Lammasch konnte in den knapp zwei Wochen seiner Regierung nichts mehr tun, als anstreben, was er auch erreicht hat, das Ende der habsburgischen Monarchie und des Kaiserthrones vor gewaltsamem Niedersturz, vor blutigem Bürgerkrieg zu behüten und das Hinsinkende aufzulösen, daß es aus dem Gewesenen ohne Katastrophe übergehe in das Werdende. Diese Aufgabe, so schmerzlich sie dem treuen Österreicher Lammasch war, hat er erfüllt. Kaiser Karl verzichtete an der Teilnahme an den Regierungsgeschäften, die österreichische Zentralregierung löste sich auf und Lammasch sprach am 12. November 1918 zu den Mitgliedern seiner Regierung in tiefster Bewegung Abschiedsworte.

Seine zweiwöchige Regierung war noch durch persönliches Mißgeschick schwer belastet. Die rauhe Jahreszeit und die Last der drängenden, aufregenden Geschäfte hatten sein altes Brustübel wieder rege gemacht. Er litt in der dramatisch bewegtesten Zeit seines Lebens an einem schweren Bronchialkatarrh. Im Hotel Krantz am Neuen Markt hatte er Wohnung genommen. Dort besuchte ich ihn, wenige Tage vor dem Ende Österreichs. Er lag mit Fieber zu Bett, im Vorzimmer saßen zwei Sekretäre und auf seinem Bette hatte er vier Telephone. So nur konnte er sich an jenem Tage mit der übrigen Welt in Verbindung halten. Ich blieb nur kurz. Als ich Abschied narim, fragte ich:

„Wird nicht doch noch einmal die Sonne über unser armes Österreich aufgehen?“

Da schüttelte Lammasch schmerzlich den Kopf: „Nein!“

Wenn er heute leben und ich ihm die gleiche Frage stellen würde, wie möchte seine Antwort lauten? So hoffnungslos nicht wie damals.

Seinem ganzen Wesen nach positiv gestimmt, aufrichtend, heilend, helfend, strebend, würde Lammasch — so dürfen wir annehmen — dasselbe geantwortet haben, was wir uns nun sagen: Österreich lebt, es ist durch schwerste .Prüfungen hindurchgegangen, nun aber schreitet es in eine hellere Zukunft, es wird das werden, was ihm die weltregierend'n Mächte feierlich versprochen haben, ein in Wahrheit freies, ein unabhängiges Österreich.

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