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Ignaz Seipel, Mensch und Staatsmann
„Ignaz Seipel, Mensch und Staatsmann“ ist eine dokumentarische Biographie, die dieser Tage im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger erschienen ist. Der Autor, Friedrich Rennhofer, Direktor der Wiener Universitätsbibliothek, bemüht sich, das leider oft nur unvollkommen überlieferte Bild des Staatsmannes Seipel („Ohne Milde“, „Schießen, schießen, schießen ...“) neu zu zeichnen. Rennhofer läßt Seipel selbst ausgiebig zu Wort kommen. Erstmals kann eine breitere Öffentlichkeit auch Einblick in Seipels Tagebuchaufzeichnungen nehmen. Heute bringen wir Ausschnitte aus den Umbruchstagen 1918, ein weiterer Teilabdruck wird folgen.
„Ignaz Seipel, Mensch und Staatsmann“ ist eine dokumentarische Biographie, die dieser Tage im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger erschienen ist. Der Autor, Friedrich Rennhofer, Direktor der Wiener Universitätsbibliothek, bemüht sich, das leider oft nur unvollkommen überlieferte Bild des Staatsmannes Seipel („Ohne Milde“, „Schießen, schießen, schießen ...“) neu zu zeichnen. Rennhofer läßt Seipel selbst ausgiebig zu Wort kommen. Erstmals kann eine breitere Öffentlichkeit auch Einblick in Seipels Tagebuchaufzeichnungen nehmen. Heute bringen wir Ausschnitte aus den Umbruchstagen 1918, ein weiterer Teilabdruck wird folgen.
„... Sehr gedrückter Stimmung und sehr müde. Zweifel, ob ich wieder und ob ich sofort zur Professur zurückkehren soll.“ So endete Seipels Tagebuchaufzeichnung an jenem durch seine Ereignisse denkwürdigen 11. November 1918 ... Er selbst berichtete später über diese entscheidenden Auseinandersetzungen folgendermaßen: „Unmittelbar nach dem Rücktritt der letzten kaiserlichen Regierung am 11. November 1918, mit dem meine kurze erste Ministerschaft zu Ende war, und nach der Ausrufung der Republik am 12. November setzten eingehende Beratungen in der Christlichsozialen Partei... ein. Einige Wochen lang drohte die Zerreißung der Partei in eine monarchistische und eine republikanische Gruppe ... Am 14. November ersuchte mich Dr. Funder, für die .Reichspost' einige Artikel programmatischen Inhalts zu schreiben, die den Weg weisen sollten, wie dem Zerfall der Partei Einhalt zu tun wäre...“
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Gewiß mag der erste Aufsatz über „Das Recht des Volkes“ manche schockiert und bei vielen ob der offe-
nen Kritik am Vergangenen Verwunderung und, wie er es selbst erwartete, Enttäuschung hervorgerufen haben. Gleichsam als Ausgangspunkt für die Haltung zu den bevorstehenden Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung nahm er darin zu den politischen Veränderungen Stellung und legte nüchtern und sachlich'die Hintergründe dar, die seit Jahren latent zum Umsturz geführt hatten und das Volk einen demokratischen Staat als das politische Ziel ersehen ließen.
Sodann stellte Seipel zur politischen Umwälzung klar und positiv fest: „Der alte Staat brach zusammen, und es mußte sozusagen im Handumdrehen ein neuer Staat geschaffen werden. Wer anders hätte da in die Bresche springen sollen als die Vertreter des Volkes, wenn auch ihre Mandate schon etwas veraltet und darum anfechtbar waren? Daß sie, gewiß nicht aus eigenem Triebe, sondern der Not gehorchend, den Auftrag, den sie seinerzeit erhalten hatten, überschritten, war noch immer besser, als wenn die Straße, alle Ordnung stürzend und dadurch das Volk
noch viel mehr vergewaltigend, die öffentliche Macht an sich gerissen hätte. Aber jetzt muß endlich das Volk selbst sprechen, wenn es nicht ein unmündiges, unfreies Volk, das seine Geschicke nicht selbst bestimmt, bleiben will.“
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„Lange hat das Volk darauf gewartet, daß die Fehler des Systems von denen beseitigt würden, die ihm die Reform der Verfassung so oft in Aussicht gestellt und damit eine bessere Zukunft versprochen haben. Nun hat es zu den alten Reformern kein Vertrauen mehr und nimmt sein Schicksal selbst in die Hand. Es will dies einfach aus dem Grunde, weil es muß.“ *
An erster Stelle dieser Sünden des alten Staates nannte Seipel den Militarismus, jenen Zustand, wo „Leute, die vielleicht sehr gut schießen und reiten, aber sonst nichts konnten, nun mit derselben Sicherheit, mit der sie im Frieden eine Kompanie kommandierten, über Leben und Eigentum der Bürger geboten“, einschließlich jener „Militärjustiz mit der ungeheuerlichen Einrichtung der .Gerichtsherren', die, ohne doch Träger der höchsten Gewalt im Staate zu sein, Todesurteile endgültig bestäti-' gen konnten“.
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Im dritten dieser Programmaufsätze, über „Die demokratische Verfassung“, geht Seipel konkret auf die Einzelheiten der neuen Staatsform und ihrer Verfassung ein. Er verweist zunächst „aus reichlicher^Erfahrung“ auf die großen Versäumnisse der Verfassungsreform in der Monarchie. Hatte er sich selbst in den letzten Jahren für eine Reform der zentralisti-schen Verfassung im Sinne eines fö-
deralistischen Umbaus ausgesprochen, so mußte er zugleich immer wieder erleben, wie alle Möglichkeiten, das Vertrauen der nach Eigenständigkeit ringenden Völker durch entsprechende Zugeständnisse wiederzugewinnen, versäumt wurden: „Befangen in zentralistischen Vorstellungen, gewöhnt an eine aus längst vergangenen Zeiten stammende Hegemonie, nicht fähig, an deren doch allen sichtbares Abbrök-keln zu glauben, vertrödelten sie die Zeit mit kleinlichem Feilschen um
Kreisgerichte und Bürgerschulen ... - und wären jetzt zu Tode froh, wenn man sie mit starker Hand zu rechtzeitigem Nachgeben gezwungen hätte, das sie aus Furcht vor überradikalen Schreiern nicht freiwillig gewähren wollten.“
IGNAZ SEIPEL, MENSCH UND STAATSMANN - EINE DOKUMENTARISCHE BIOGRAPHIE. Von Friedrich Rennhofer, Verlag Hermann Böhlaus Nachf, Wien, 1978, öS 824,-
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