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„Prälat ohne Milde” oder Vorkämpfer der Selbstbehauptung?

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„Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.” An dieses Wort Schillers über Wallenstein wird man erinnert, wenn man Klemens von Klemperers vor kurzem erschienene Biographie „Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit” (Verlag Styria, Graz - Wien - Köln 1976) liest. Klemperer, ein aus Berlin ge-, bürtiger amerikanischer Historiker, der Österreich seit seinen Studienjahren verbunden ist, hat sein 1972 in englischer Sprache erschienenes Werk „Ignaz Seipel. Christian Statesman in a Time of Crisis” (Princeton University Press) nun in deutscher Sprache herausgebracht, im Text fast völlig unverändert, nur die Anmerkungen wurden vermindert.

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„Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.” An dieses Wort Schillers über Wallenstein wird man erinnert, wenn man Klemens von Klemperers vor kurzem erschienene Biographie „Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit” (Verlag Styria, Graz - Wien - Köln 1976) liest. Klemperer, ein aus Berlin ge-, bürtiger amerikanischer Historiker, der Österreich seit seinen Studienjahren verbunden ist, hat sein 1972 in englischer Sprache erschienenes Werk „Ignaz Seipel. Christian Statesman in a Time of Crisis” (Princeton University Press) nun in deutscher Sprache herausgebracht, im Text fast völlig unverändert, nur die Anmerkungen wurden vermindert.

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Wie schon im Original, so herrscht auch jetzt noch insgesamt der Eindruck vor, daß diese Biographie vor allem den Außenpolitiker Ignaz Seipel (1876-1932) und weniger den Innenpolitiker berücksichtigt; hier klaffen viele Lücken. Diese werden freilich kaum empfunden, weil Klemperer immer wieder zu teilweise großartigen Überblicken gesamteuropäischer politischer Zusammenhänge ansetzt.

Klemperer war sich von Anbeginn der Schwierigkeiten seines Unternehmens bewußt. Sagt er doch, viel von dem, was über Seipel geschrieben worden sei, falle in den Bereich der Hagiographie oder den der Dämonologie, ja Dämonisierung (hinsichtlich ersterer zitiert er Birk und Blüml, hinsichtlich letzterer Gulick, Braunthal, Hannak). Tatsächlich hat man aber bei Klemperers Darstellung, vor allem der zweiten Hälfte von Seipels maßgebendem politischen Wirken als Bundeskanzler und Obmann der Christlichsozialen Partei (seit Juli 1927), den Eindruck, als hätte Klemperer zunehmend einen Seipel konzipiert, in dem der Hang zur Macht das priestjer- liche frttios’ zurückgedrängt hätte, so als ob ihm die Macht der oberste Wert gewesen wäre, unbedenklich in der Wahl der Mittel, auch ,vor Intrigen nicht zurückschreckend, um mißliebige Konkurrenten auszuschalten. So angeblich gegenüber Bundeskanzler Johann Schober handelnd, der im September 1930 demissionierte (S. 296 ff.). „Altbundeskanzler oder Graue Eminenz” ist denn auch die Überschrift des Kapitels nach Seipels Rücktritt im April 1929. Insgesamt könnte man fast meinen, Seipel sei ein letztlich gescheiterter österreichischer Richelieu.

Ein österreichischer Richelieu?

Klemperer kennt aber auch die Tragik in der Person Seipels, den unseligen Widerstreit zwischen dem prie- sterlichen Gewissen und .dem politischen Auserwähltheitsglauben, seinen Hang nach Macht zur Ordnung des Staates. Aber er betont dieses Element bei Seipel doch zu stark, so als ob die Identifizierung Seipels mit dem Staatswohl, sein Ehrgeiz, selbst deije- nige zu sein, der diesen Staat rettet, notfalls auch mit Härte, das Um und Auf gewesen wäre. Daß es bei Seipel manchmal so geschienen hat, sei nicht bestritten. Aber der Priester Seipel hat diese Schwäche immer wieder bekämpft. Davon zeugen seine Tagebücher.

Deutlich wird aus allen Darlegungen, daß für Klemperer das heute konsolidierte Ideal der parlamentarischen Demokratie der oberste Wert ist, an dem gemessen, rückblickend, diese geistig so verwirrte, hektische und radikale Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre in Österreich und mit ihr der Zeitgenosse Seipel notwendigerweise allzu scharfe Zensuren erhalten müssen. Aber für den Staatsmann Seipel war die Erhaltung des Staates der oberste Wert und nicht eine bestimmte Staatsform, die sich damals durch Dauerobstruktionen der gegnerischen Partei im Parlament und ein dauerndes Patt zwischen zwei fast gleichstarken Lagern ad absurdum zu führen schien! Und zwar so, daß auch viele andere Persönlichkeiten an der damaligen - nicht nur der österreichischen -parlamentarischen Demokratie verzweifelten!

Der Protestant Klemperer tut sich auch schwer, die Mentalität eines österreichischen katholischen Priesters in allen Dimensionen profund zu begreifen. Daß nicht immer alle Vor-’ aussetzungen der Kenntnis katholischen Lebens bei Klemperer gegeben sind, ergibt sich daraus, daß er den späteren Kardinal Piffl als „Prior” von Klosterneuburg bezeichnet (S. 31), statt „Propst”.

Klemperer hat jedoch so manches Licht in die Jahre von Seipels größter politischer Wirksamkeit gebracht. Er arbeitet vor allem seine politischen Ideen heraus. Von Wichtigkeit erscheinen auch seine Forschungen über die Jahre der Vorbereitung und geistigen Reifung. Anschaulich schildert er Seipels Dezennium in Salzburg als Professor für Moraltheologie von 1907 bis 1917. Auch seine Freundschaft mit dem großen Pazifisten Heinrich Lammasch und mit dem Dichter, Kritiker und Essayisten Hermann Bahr wird gebührend berücksichtigt.

Klemperer arbeitet Seipels Verdienst (das er mit Johann N. Hauser, Jodok Fink ünd andereft teilt), iri Zu- ‘ sammenarbeit mit Karl Renner ünd seinen Helfern an einem Übergang Österreichs zur parlamentarisch-demokratischen Republik ohne Blutvergießen wesentlich mitgeholfen zu haben, ausreichend heraus, auch die Bemühungen Seipels, Österreichs Wirtschaft zu sanieren, die freilich den Artikel 88 des Vertrags von St. Germain, das Anschlußverbot, zementierten. Österreich mußte diesbezüglich eine neue Garantie abgeben, was ihm die ärgste Kritik der Opposition, insbesondere Otto Bauers, eintrug!

In seiner ersten Regierungserklärung bekannte sich Seipel zur Lebensfähigkeit Österreichs (31. Mai 1922): um für einen Staat recht arbeiten zu können, muß man an seine Lebensfähigkeit glauben.” (S. 149) Dabei zollte er auch Heinrich Lammasch, dem letzten Ministerpräsidenten Altösterreichs, „diesem edlen Mann”, seinen Tribut.

In seinen Ansprachen, die er damals in den europäischen Hauptstädten hielt, um die Völkerbundanleihen zu erhalten, „beunruhigte Seipel die Mächtigen” (er ließ offen, wem sich Österreich zuwenden würde, ehe es pleite ging!) und vermittelte ihnen die Überzeugung, daß die Bewahrung Österreichs eine internationale Notwendigkeit war, von der das mitteleuropäische Kräftegleichgewicht abhing. Auf dies Weise gelang Seipel das „Genfer Sanierungswerk”.

Leider ist Klemperer alles Weitere doch etwas kursorisch geraten; 380 Seiten, samt Anmerkungen, Bibliographie und Register sind für eine solche Gestalt mit ihrem Zeithintergrund zu wenig! Bei der zu kurz gekommenen Innenpolitik ist vor allem der Sozialpolitiker Seipel weitgehend unbeachtet geblieben. Dabei war die Sozialpolitik die zweite Seite seines Wesens. In Seipels zweitem Kabinett fallen drei wichtige Gesetzesinitiativen, die den Ausbau der Sozialversicherung vorantreiben. 1926 wurde das Angestelltenversicherungsgesetz beschlossen, das erstmals alle Zweige der Sozialversicherung vereinte, 1928 das Arbeiterversicherungsgesetz (es trat leider nicht in Kraft, weil man die Arbeitslosigkeit nie unter 100.000 absenken konnte), Aųęh die.J^ajnjiarbei- ter. vnmjen damals dem System der sozialen Sicherheit eingegliedert Im Zusammenhang damit kam es zu Ansätzen in der Selbständigenversiche- rung.

Der 15. Juli 1927 hat Seipel dann das Stigma des „Prälaten ohne Milde” eingetragen, weil er den Einsatz der Staatsmacht seinem Gewissen nach als unerläßlich ansah. Bei der Reform der Verfassung von 1920 war 1929 Otto Bauer sein wichtigster Gesprächspartner. Es kam bei einer gewissen Stärkung der Rolle des Bundespräsidenten im allgemeinen auf einen Kompromiß hinaus, der schließlich unter Bundeskanzler Schober realisiert wurde (im April 1929 war Seipel zurückgetreten).

Enttäuscht ob der zu geringen Stärkung des autoritären Elementes in der Verfassung hat Seipel dann in seiner’ Resignation die Heimwehr begünstigt. Die berufsständischen Ideen der Enzyklika „Quadragesimo Anno” schienen ihm eher eine Lösung der Staatsprobleme zu verbürgen. Die Selbstausschaltung des Parlamentes vom 4. März 1933 erlebte er freilich nicht mehr.

Klemperer hat auch die so wichtige Rede Seipels vom 21. Jänner 1929 vor dem Akademisch-politischen Klub in München über den „österreichischen Föderalismus” nur nebenbei” eiHPähnt,’’ in der Seipel den Anschluß wegen des österreichischen Föderalismus als untunlich erklärte und betonte, eben deshalb „scheint Österreich … für immer zu einem selbständigen Sein nach Art der Schweiz, seinem einzigen und tatsächlichen Vorbild, bestimmt zu sein”. Anderseits arbeitet Klemperer die Tatsache heraus, daß es Seipel mit dem Anschluß nie ernst gemeint habe, und verhehlt auch nicht gelegentliche Spannungen zwischen Seipel und deutschen Staatsmännern.

Gegen Ende des Werkes wird Klemperers Seipel-Bild immer düsterer, ja er stellt ihn schließlich als „Gescheiterten” hin - das Wort „Scheitern” wird überstrapaziert, womit er sich nicht zuletzt in den Fußstapfen von Emst Karl Winters Seipel-Buch „Ignaz Seipel als dialektisches Problem” (Wien 1966) bewegt, zu dem er auch das Vorwort geschrieben hat. Zweimal führt er am Ende (auch in der „Conclusion”) jenes wissenschaftlich kaum deckbare Wort Seipels an, das dieser im Fieberdelirium - laut Aussage seines Adlatus August Maria Knoll - ausgerufen haben soll, im Hinblick auf die Obstruktion der Linken: „Man muß schießen, schießen, schießen.” Dadurch wird gleichsam der „Prälat ohne Milde” von 1927 erhärtet. Obwohl nachweisbar, wenn überhaupt, dieses Wort eines phantasierenden Schwerkranken schon in der zweiten Hälfte Juni 1932 gefallen sein müßte, der Tod aber erst am 2. August eintrat, behauptet Klemperer: „Der vormals christliche Pazifist starb mit den Worten: ,Man muß schießen’, schießen, schießen!1, der heiligmäßige Priester wurde - und nicht nur für seine Feinde - der .Prälat ohne Milde1, und der aufgeschlossene Katholik endete eingeigelt und verbittert gegen alles Moderne. Als sterbender Löwe ging er aus der Welt.” (S. 365)

Bei Klemperer erscheint das Seipel-Bild am Ende dermaßen verdunkelt, so, als ob lange Passagen in den ersten zwei Dritteln des Buches nicht geschrieben worden wären. Dabei hatte er zum Attentat Karl Jaworeks am 1. Juni 1924 festgestellt: „…der militante Geist der Partei, ihre Aufwiegelung der Massen (hatten) in dieser Tat des unseligen Jaworek eine grau envolle Frucht getragen.” (S. 194) Seipel hatte damals den Attentäter noch vor der Lynchjustiz der Menge geschützt und seiner Frau zu Weihnachten eine Unterstützung überwiesen.

Eine jahrelange Hetze gegen ihn und seine Politik hat nicht nur den Priester tief getroffen, sondern auch den Staatsmann um des Staates willen verhärtet. Tragisch war, daß man sein ernsthaftes Koalitionsangebot im Juni 1931 (als er designierter Bundeskanzler war) von seiten der Sozialdemokratie nicht annahm. Wie Otto Leichter später berichtete, hätte es dazu nur noch eines kleinen Anstoßes bei der entscheidenden Sitzung der Parteiführung bedurft. Vielleicht wäre dann alles in Österreich anders gekommen. Aber dann starb der Prälat. Otto Bauer erwies sich als edler Feindį^efoi Nach- -rufiin deb Arbeiter-Zeitungw%ar feine Verbeugung vor der Größe seines Gegners.

Seipel war kein Gescheiterter

Ein Gescheiterter war Seipel sicherlich nicht, dazu war seine Leistung im Zusammenhang mit dem Genfer Sanierungswerk zu groß, aber freilich in Anbetracht seiner Zeit eines ungeheuren Umbruchs ein in manchen Dingen Irrender, dem sich der Weg in die Zukunft angesichts einer Weltkrise nur in vagen, schwankenden Umrissen zeigte. Aber er besann sich auf die no rische Republik als Parallele zur Schweiz und wollte diesem politischen Kerngebilde des alten großen Österreich den Weg in eine neue große Zukunft um jeden Preis offen halten.

Schon auf dem Seipel-Symposion der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien am 25. Mai 1976 ist das „Man muß schießen …” angezweifelt worden. Man darf dabei auf die Seipel-Biographie Friedrich Rennhofers gespannt sein. Sie wird - zugleich in Form einer Dokumentation - wohl die noch bestehenden Lük- ken schließen und so manches richtigstellen.

Seipel hat Österreich wieder zu einem Faktor der Weltpolitik gemacht. Otto Bauer bezeichnete ihn im Nachruf als „den einzigen Staatsmann europäischen Formats, den die bürgerlichen Parteien… hervorgebracht haben” („AZ”, 3. August 1932). Er sagte freilich auch: „Er (Seipel) ist als Besiegter gestorben.”

Aber konnte einer wirklich besiegt oder gescheitert sein, an dessen Leichenbegängnis eine Viertelmillion Bürger teünahm? Zweifellos war dies der Dank dafür, daß er bereits vier Jahre nach 1918 das Fundament für ein neues österreichisches Staatsbewußtsein gelegt hatte. Zwar hatte er die Sanierung der österreichischen Wirtschaft nicht zu Ende führen können, aber er hat eine erste Welle österreichischer Selbstbehauptung ausgelöst, auf die man sich später wieder besinnen konnte. Er sah den Schweizer Weg Österreichs im Sinne einer eigenschöpferischen österreichischen Variante voraus und hat ihn in manchem planiert. ,,

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