Des kleinen Bürgers BEKLEMMUNG

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Die Ängste vor den "Fremden" und dem eigenen, sozialen Abstieg sind nicht nur irrational. Man sollte sie also ernst nehmen - vor allem deshalb, weil eine Politik der Angst beängstigend ist.

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Die Ängste vor den "Fremden" und dem eigenen, sozialen Abstieg sind nicht nur irrational. Man sollte sie also ernst nehmen - vor allem deshalb, weil eine Politik der Angst beängstigend ist.

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"Wir haben nichts zu fürchten - außer die Furcht selbst." Das ist das wohl bekannteste Zitat aus den Reden Franklin D. Roosevelts. Der amerikanische Präsident, der die USA aus der größten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte heraus und in die Verantwortung für den Weltfrieden hinein geführt hat, hat damit ganz sicher nicht sagen wollen, es gäbe nie einen Grund für Furcht und Angst. Krieg und Verfolgung, Krankheit und Not waren natürlich auch ihm allgegenwärtig. Wovor er warnte, das war die Lähmung, die politische Handlungsunfähigkeit, die kollektive Angst nur zu oft begleitet: die Angst vor der Angst.

Roosevelt verwendete diese seine Worte am 4. März 1933, als er vor dem Kapitol in Washington angelobt wurde. Die Arbeitslosigkeit in den USA und in Europa war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Einige Wochen vor Roosevelts Inauguration war Adolf Hitler deutscher Reichskanzler geworden, und ein Jahr davor hatte in Ostasien Japan die chinesische Mandschurei militärisch besetzt und als Mandschukuo in einen Satellitenstaat umgewandelt. 15 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges trieb die Welt - erkennbar für alle, die sehen wollten - auf eine neue, noch größere Katastrophe zu.

Roosevelt gelang es, in kleinen, vorsichtig verabreichten Dosen, den USA ein neues Selbstbewusstsein einzuflößen. Und schließlich stand Amerika bereit, die selbst gewählte Isolation zu verlassen und die führende Rolle in der Weltpolitik zu übernehmen. Die amerikanische Gesellschaft überwand ihre Furcht und ermöglichte so den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und die japanische Militärdiktatur.

Während des Zweiten Weltkrieges startete an der University of California, Berkeley, ein Forschungsteam ein Projekt, um die Gründe für die Aggressivität totalitären Denkens zu finden. Teil dieses Teams war Theodor W. Adorno, der als Mitglied der "Frankfurter Schule" aus Deutschland geflohen war und die Brücke zwischen den europäischen, stärker theoretisch und auch marxistisch geprägten Forschungsansätzen, und den amerikanischen Traditionen herstellte, die stärker empirisch und psychologisch orientiert waren. Das Ergebnis der Forschungen wurde 1950 in einem Buch veröffentlicht: "The Authoritarian Personality", einer der Klassiker der modernen Sozialforschung.

"Weißsein" als einziges Privileg

Dieser Studie gelang der Nachweis, dass die sozial Schwächeren der insgesamt relativ privilegierten Bevölkerungsmehrheit zu aggressiven Vorurteilen gegenüber Minderheiten neigen. Die sozial Schwächeren der "Weißen" grenzten sich von den (z. B. "schwarzen") Minderheiten ab. Die Erklärung: Die "Weißen" fürchteten um ihr einziges gesellschaftlich relevante Privileg - die "rassische" Differenz. Die Angst vor dem sozialen Abstieg verursachte eine autoritäre Grundhaltung.

In Europa war und ist die Situation nicht so verschieden. In den 1920er- und 1930erJahren war der Zustrom zu den verschiedenen autoritären, faschistischen oder faschistoiden Bewegungen vor allem vom radikalisierten Kleinbürgertum bestimmt: Wirtschaftskrise und ein als gefährlich revolutionär wahrgenommenes Proletariat dienten als Begründung hinter der aggressiven Ausgrenzung gegen die als anders, als "fremd" konstruierten Bevölkerungsgruppen, insbesondere gegen die Juden.

Fast ein Jahrhundert später ist in Europa das, was einmal Proletariat genannt wurde, zum Kleinbürgertum der Gegenwart geworden. Es hat mehr zu verlieren als seine Ketten -es sorgt sich um einen wenn auch bescheidenen, so doch relevanten Wohlstand; um die noch nicht ausbezahlte Eigentumswohnung, um das abzustotternde Auto, um die Sicherheit im Alter. Und für dieses neue Kleinbürgertum gibt es auch neue Fremde: Die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, die aber auch "nur" auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse aus Asien und Afrika nach Europa strömen - wie auch aus Lateinamerika in die USA.

Die Abstiegsängste des Kleinbürgertums von heute stehen hinter dem Aufstieg der Parteien des vor allem westeuropäischen Rechtspopulismus; des französischen Front National, der niederländischen Freiheitspartei, der Dänischen Volkspartei, der Schwedendemokraten, anderer Parteien - und eben auch der FPÖ. In Österreich ist schon seit einigen Jahren nicht mehr die SPÖ die Partei, die von einer Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter gewählt wird; es ist die FPÖ. Und in Frankreich ist ein Gutteil der Arbeiterstimmen schon am Ende des vorigen Jahrhunderts fast ohne Zwischenetappe von der Kommunistischen Partei zu Le Pens FN abgewandert.

Dass die Furcht vor den "Fremden" auch rational kaum reflektierte Ursachen hat, zeigen die Wahlergebnisse in den Wiener Bezirken. So sind etwa im 21. und im 22. Bezirk die Freiheitlichen überdurchschnittlich stark - unabhängig davon, dass der Anteil der Zuwanderer in beiden Bezirken unter dem Wiener Durchschnitt liegt. Freilich: Dass Zuwanderung mehr von den weniger gut Ausgebildeten als Bedrohung für "ihre" Arbeitsplätze gesehen werden, ist sehr wohl rational erklärbar. Ein Bauarbeiter ist viel leichter durch einen "billigeren" Migranten ersetzbar als ein Verwaltungsjurist.

Gibt es eine Kultur des Eigenen?

Die Angst vor den "Fremden" ist also nicht nur irrational. Freilich: Der Überbau über die real vorhandene Angst, die ist jenseits der Rationalität. "Fremde" sind ja nicht objektiv vorgegeben, "Fremde" werden als solche konstruiert. Kulturen werden grob vereinfacht ethnisiert und kulturelle Differenzen grob vereinfacht hochgespielt: als gebe es so etwas wie eine homogene Kultur des Eigenen.

Zwischen den Besucherinnen und Besuchern der Konzerte der Wiener Philharmoniker und den Stammhörern von Ö3 gibt es wohl mehr kulturelle Unterschiede als Gemeinsamkeiten; und zwischen den Fans von Rapid Wien und denen von Galatasaray Istanbul fallen vor allem kulturelle Parallelen auf. Feministisch bewegte, politisch engagierte Frauen in Mexico City und in Wien haben vieles in ihrem kulturellen Verhalten gemeinsam, Bäuerinnen aus dem Bregenzer Wald und die regelmäßigen Besucherinnen des Café Sacher in Wien wohl weniger. Das Fremde ist ebenso imaginiert wie das Eigene.

Wer auf Plakaten von "unseren" Leuten spricht, spielt auf der Klaviatur des politisch konstruierten Fremden. Da wird eingegrenzt - aber damit eben auch und vor allem ausgegrenzt. Das heißt freilich nicht, dass politische Wahlkampagnen Fremdes einfach erfinden; aber es hebt eine Wahrnehmung von oft real nicht existierenden Unterschieden auf die Bewusstseinsebene und macht sie so für politische Zwecke instrumentalisierbar.

"Uns" - das wird in Europa und speziell auch in Österreich teilweise anders verstanden als noch vor hundert Jahren. In der Ersten Republik waren "die Anderen", gegen die mobilisiert wurde, vor allem innenpolitische Gegner: die anderen "Lager", die sich in politischen Parteien manifestierten. Das hat sich in der Zweiten Republik allmählich geändert: "Angst" mobilisiert nicht mehr gegen SPÖ oder ÖVP. Die Sozialdemokratie wird nicht mehr als Vorbote des Bolschewismus, und die Volkspartei nicht mehr als Agentin eines Klerikofaschismus gesehen.

Warum? Die Erfahrung zeigt eben, dass solche Angstbilder nicht mehr mobilisieren. Die Erfahrung der demokratisch stabilen Zweiten Republik zeigt, dass man einander zwar mangelnde Fähigkeiten vorhalten kann, aber nicht diabolische Pläne zur Zerstörung republikanischer oder abendländischer Werte. Österreich hat gelernt. Angst mobilisiert heute in eine andere Richtung als vor zwei, drei Generationen: gegen die "Fremden", die ins Land kommen.

Wer fürchtet sich vor Faymann?

Österreich geht durch den Prozess einer Austrifizierung und gleichzeitig einer Entaustrifizierung. Im Gegensatz zur 80,90 Jahre zurückliegenden Vergangenheit sind politische Loyalitäten weniger an politischweltanschaulichen Lagern orientiert - und mehr an Österreich. Der Österreich-Patriotismus hat tiefe Wurzeln geschlagen. Kaum noch sind die politisch Andersdenkenden im Lande diejenigen, die Ängste hervorrufen. Wer fürchtet sich schon vor Werner Faymann oder Reinhold Mitterlehner?

Die politisch nutzbare Angst in Österreich gleicht heute mehr derjenigen, die in den 1940er-Jahren von Adorno und den anderen des kalifornischen Forschungsteams beschrieben und analysiert wurde. Angst ist heute in Österreich eine politische Kategorie, die sich auf befürchtete Verluste bezieht. Politische Angst heute ist eine eingebildete oder auch eine nachvollziehbare individuelle Abstiegsangst. Und daher drohen auch nicht Bolschewismus und Klerikofaschismus: Es drohen die Fremden, die ach so anders sind als "wir".

Diese Abstiegsängste sind nicht spezifisch österreichisch. Sie finden sich in allen europäischen Ländern, insbesondere auch in den relativen Wohlstandregionen Westeuropas, zu denen ja auch Österreich gehört. Mit dieser Angst müssen wir leben. Und es bringt nichts, wenn wir mit Empörung auf die fremdenfeindlichen, nationalistischen, latent rassistischen Aspekte einer Politik verweisen, die diese Ängste bewusst einsetzt. Diese Ängste sind ernst zu nehmen, weil sie sich nicht nur auf eingebildete Bedrohungen beziehen; vor allem aber, weil eine Politik der Angst beängstigend ist: Sie verleitet zu irrationalen Rundumschlägen, die vorhandene Solidarität zerstören und potentielle Solidarität erst gar nicht aufkommen lassen.

Roosevelts Inaugurationsrede von 1933 bietet kein Rezept, sehr wohl aber eine Einsicht: Angst verstellt den Blick auf Wirklichkeiten; Angst vereinfacht, Angst macht blind für die Komplexität der Gesellschaft. Der Ausweg ist, sich von Furcht und Angst frei zu machen.

Hat da nicht einmal einer gesagt: "Fürchtet Euch nicht"?

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest

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