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„Der General“
Wer erinnert sich bei der Betrachtung der Ereignisse, die sich jetzt in Frankreich abspielen, nicht an das berühmte Gespräch, das Ludwig XVI. mit seinem Hofmarschall führte, als man ihm 1789 die Nachricht von den Unruhen in Paris nach Versailles überbrachte. „Das ist ja eine Revolte“, soll der König gesagt haben. „Nein, Sire“, war angeblich die Antwort des Hofmarschalls, „das ist die Revolution.“
Ist es eine Revolte, die Frankreich erschüttert, oder ist es bereits eine Revolution? Es begann mit Demonstrationen der Studenten, die für ein Paket berechtigter Wünsche und ein Paket unberechtigter Anarchie auf die Straße gingen. Die Pariser Polizei balgte sich mit den Studenten, wie Frauen einander in die Haare fahren, das heißt, sie ließ weder den Aufstand austoben noch schlug sie ihn sofort nieder. Ihre Lethargie und Gehässigkeit waren öl in das Feuer der Studenten. Die Revolte der Studenten wuchs. Dies war der Augenblick, da alle Gegner de Gaulles auf die Bühne traten, um das zu erreichen, was sie mit einem Plebiszit nie erreichen konnten: de Gaulle zu stürzen.
Sie erreichten das, was alle Revolutionen in Frankreich bisher immer wieder erreichten: sie stürzten Frankreich in ein Chaos, sie schädigten die französische Wirtschaft schwerstens und konnten gleichzeitig kein eigentliches Programm aufstellen. Sie erreichten das einzige, was alle Revolutionen in Frankreich erreichten: Schrecken zu verbreiten. Wie ein eisernes Gesetz folgt in Frankreich auf jeden Schrecken der Revolution „der General“.
Auf den Schrecken der Französischen Revolution kam der General Bonaparte, auf den Schrecken der Revolution von 1848 Prinz Louis Napoleon, auf den Schrecken der Kommune von 1871 der Marschall MacMahon, auf den Schrecken der Niederlage von 1940 Marschall Pėtain, auf den Schrecken der NS- Besetzung General de Gaulle und auf den Schrecken des verlorenen Indochina- und Algerienkrieges wiederum General de Gaulle. Jetzt, da de Gaulles außenpolitisch größter Erfolg in greifbare Nähe tritt, nämlich Amerika und Vietnam in Paris an den Konferenztisch zu bringen, scheint gleichzeitig innenpolitisch seine größte Niederlage sich anzubahnen. Was wird geschehen? Da diese Zeilen in Druck gehen, ist noch alles in Fluß, und Prophezeiungen sind immer etwas Zwiespältiges. Die Tragödie der jetzigen Revolution in Frankreich besteht darin, daß sie kein Programm hat. Die Größe de Gaulles besteht darin, daß er die Ordnung repräsentiert. Meistert er diese Situation, dann wird er wirklich als einer der größten Staatsmänner unseres Jahrhunderts dastehen, vergleichbar Churchill oder Adenauer. Wahrscheinlich wird er sie meistern.
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