Valery - © Foto: Henri Manuel.(gemeinfrei)

Paul Valéry: „Die anderen machen Bücher, ich mache meinen Geist“

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Das intellektuelle Potenzial des Menschen bedarf eines ständigen Trainings: Der 1871 geborene französische Dichter und Philosoph Paul Valéry sah seinen Gedanken beim Entstehen zu.

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Das intellektuelle Potenzial des Menschen bedarf eines ständigen Trainings: Der 1871 geborene französische Dichter und Philosoph Paul Valéry sah seinen Gedanken beim Entstehen zu.

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„Ich existiere, um etwas zu finden“, so lautete das Credo von Paul Valéry. Im Mittelpunkt seines „Denkens ohne Leitbilder“ standen zahlreiche Reflexionen über den Zusammenhang von Bewusstsein, Denken und Gedächtnis. In immer neuen Anläufen beobachtete er seine Gedanken bei ihrer Entstehung, wobei er auf die Präzision der Beobachtungen größten Wert legte. Valéry interessierte sich für das intellektuelle Potenzial des Menschen. Die Ausbildung dieses Potenzials bedarf eines ständigen Trainings, wie es der Dichter-Philosoph ausübte. In der täglichen mehrstündigen Arbeit an seinen über 26.000 Seiten umfassenden „Cahiers“ – den „Notizbüchern“ – ließ er seinen Kopf exerzieren, wie er in einem Brief schrieb, um eine höchstmögliche Klarheit und Präzision des Denkens zu erreichen.

Geboren wurde Paul Ambroise Valéry am 30. Oktober 1871 als Sohn einer Beamtenfamilie in der südfranzösischen Hafenstadt Sète, wo er seine Kindheit verbrachte. Prägend war für ihn die Atmosphäre der mittelmeerischen Welt. „Kein Schauspiel gab mir so viel wie der Anblick, den man von einem Balkon auf einen Hafen hat“, schrieb er in einem Brief.

1888 begann Valéry ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Montpellier und verfasste in jugendlichem Alter symbolistische Gedichte, die er in exklusiven Literaturzeitschriften publizierte. 1894 ging er nach Paris, wo er den Dichter Stéphane Mallarmé kennenlernte, der für ihn die Verkörperung des avantgardistischen Schriftstellers darstellte. Trotz der Wertschätzung, die ihm Mallarmé entgegenbrachte, distanzierte sich Valéry immer mehr vom Literaturbetrieb.

Schließlich verabschiedete er sich von seiner literarischen Tätigkeit, wobei eine mystische Erfahrung in Genua im Jahr 1892 eine zentrale Rolle spielte. Valéry berichtete von einer „schreckerfüllten Nacht“, die ihn zutiefst erschütterte – mit dem Ergebnis, dass er sich am Morgen als ganz anderer fühlte. Ein Gefühl der Fremdheit sich selbst gegenüber beherrschte ihn, begleitet von der anhaltenden Verwunderung darüber, gerade diesen Körper, dieses individuelle Leben zu besitzen.

Kunstfigur Monsieur Teste

Bekannt wurde Valéry durch das Prosawerk „Monsieur Teste“, das er 1894 verfasste. In dem Porträt einer imaginären Person versammelte er Beobachtungen über sich selbst, um „einer ganz und gar nicht möglichen Persönlichkeit einigen Anschein von möglicher Existenz zu geben“. In dem Gespräch mit dem Erzähler-Ich, der stolz bekennt, dass „Dummheit nicht seine Stärke sei“, wird Herr Teste als eine Kunstfigur vorgestellt, die das Bestreben nach einer vollkommen rationalisierten Existenz verkörpert.

Herr Teste lehnt es ab, in die Falle irgendeiner sozialen Prägung zu gehen, die immer mit einem Konformitätsdruck verbunden ist. Diese Prägung weist zahlreiche Komponenten auf, die ein „normales“ menschliches Leben bestimmen, Valéry bezeichnete sie als ein „anthropometrisches Datenblatt von intimer Art“: „Darauf ist eingetragen, was man von sich vom Hörensagen weiß – Geburtsdatum, Name und das Mosaik der wahren und falschen Erinnerungen, der Berichte, Dokumente. – Gemisch aus Geschichte, aus Legende, gefärbt mit Sensibilitäten; mit Lücken, verbotenen Zonen und Ängsten, die im Schatten spürbar sind.“ Monsieur Teste ignoriert dieses Datenblatt. „Er hatte keine Meinungen“, konstatiert der Erzähler, „sprach er, so erhob er nie den Arm oder nur den Finger. Er hatte die Marionette getötet.“ Diese Radikalität hat seinen Preis: Da Herr Teste jegliche sozialen Bindungen ablehnt und nur sein „reines Denken“ verfolgt, ist er völlig isoliert, was ihn nicht weiter stört. „Ich bin allein, wie behaglich ist die Einsamkeit“, heißt es gegen Ende des Textes.

Gräuel des Krieges

Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete Valéry vorerst im Kriegsministerium, später als Privatsekretär des Direktors einer Presseagentur. Der Brotberuf ließ ihm genügend Zeit, um seinen Reflexionen nachzugehen. Valérys Gelehrtenexistenz in seiner Denkklause wurde durch den Ersten Weltkrieg stark beeinträchtig; ihn bedrückten die Gräuel des Krieges. „Eine Katastrophe ohne Ende, die uns anzeigt, dass eine Kultur so hinfällig ist wie ein Menschenleben“, notierte er.

Nach seiner rund 20-jährigen Publikations-Verweigerung kehrte Valéry 1917 mit der Veröffentlichung des Gedichtbandes „Die junge Parze“ in den Literaturbetrieb zurück. 1921 veröffentlichte er den Text „Eupalinos oder der Architekt“, in dem ein fiktiver Dialog zwischen Sokrates und seinem Schüler Phaidros im Schattenreich des Hades geschildert wird. Neben Reflexionen über ästhetische Themen findet sich eine Selbstkritik der philosophischen Tätigkeit, die Sokrates zu Lebzeiten entfaltet hat.

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