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Grenzenlose Liebe zur Ewigkeit

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Wer war Simone Weil wirklich? Die Ubersetzung ihrer persönlichen Notizen schafft neuen Zugang zu einer radikalen Denkerin unseres Jahrhunderts.

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Wer war Simone Weil wirklich? Die Ubersetzung ihrer persönlichen Notizen schafft neuen Zugang zu einer radikalen Denkerin unseres Jahrhunderts.

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Sie studierte bei dem bekannten Philosophen Emile Chartier, genannt „Alain”, und kämpfte im spanischen Rürgerkrieg, war Philosophieprofessorin und Fabriksarbeiterin, verfaßte politische Schriften und mystische Retrachtungen, war Sozialistin, radikale Anarchistin, gebürtige Jüdin, gewachsene Christin. Simone Weil, geboren am 3. Februar 1909 in Paris, gestorben am 24. August 1943 in Ashford, England, lebte ein kurzes Leben, aber ein Leben der Extreme. Ihre Grundhaltung war, alles zu negieren, was nicht der Absolutheit eines Wahrheitsanspruchs gerecht wurde. Sie strebte nach dem Absoluten, war erfüllt und angetrieben von einer leidenschaftlichen Liebe zur Wahrheit. Ihr Herz schlug für den ganzen Erdball, sagte Simone de Reauvoir über sie.

Schon während des Studiums publizierte sie philosophische Texte. Später engagierte sie sich für die Arbeiterbewegung und verfaßte eine Reihe von Artikeln, darunter für die Zeitschrift „La Revolution proletari-enne”. Am genauesten ist die Denkentwicklung von Simone Weil aber in insgesamt 18 Notizheften (plus einem Londoner Notizheft), den „Cahiers”, dokumentiert.

Diese Hefte, die sie selber nie für die Veröffentlichung vorsah, entstanden vor allem in den Jahren 1940 bis 1943. Nach dem deutschen Einmarsch in Paris 1940 verließ Simone Weil die Stadt. Etwa zwei Jahre verbrachte sie in Marseille und engagierte sich in der französischen Widerstandsbewegung, der Resistance.

Ehe sie am 14. Mai Marseille in Richtung Amerika verließ, drückte sie ihrem Freund und Gespächspart-ner Gustave Thibon einen Packen Hefte in die Hand zur freien Verfügung nach ihrem Tod.

In deutscher Sprache waren die „Cahiers” bislang nur in Form von ausgewählten Texten zugängig. Ein recht einseitiges Rild von einer religiösen Schriftstellerin und Mystikerin Weil wrurde in Rüchern wie „Zeugnis für das Gute” oder „Schwerkraft und Gnade” vermittelt. Als 1991 der erste Rand der „Cahiers” ins Deutsche übertragen wurde - die Ubersetzer wurden dafür mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet - war deswegen ein erleichtertes Aufatmen zu hören. „Endlich unverfälscht!” lautete der Tenor der Rezensionen.

Die „Cahiers” sind tatsächlich die „unverfälschte” Rohfassung der Gedanken Simone Weils, fragmenthafte Notizbücher einer analytischen Denkerin von höchster Abstraktheit. Sie sind deswegen aber auch unlesbar im üblichen Sinne. Zwischen mathematischen Gleichungen und Algebrafunktionen, griechischen Piaton- und lateinischen Vergil-Zitaten, Auszügen aus den Upanishaden, der Rhaga-vadgita und der Ribel müssen die Weilschen Juwelen nämlich mit Mühe gesucht werden. Dennoch eine Suche, die sich lohnt.

„Ein Merkmal für das Wirkliche ist, daß es hart und rauh ist. Man findet dort Freude, keine Annehmlichkeit. Alles, was angenehm ist, ist Träumerei.” Diese Sätze finden sich auf den ersten Seiten des Notizbuches, welches sie im Februar 1942 beginnt.

Krank und geschwächt, will sie dennoch für ihr Land da sein und plant, über Amerika zur Resistance in London zu stoßen. „Ich will dienen, ich will dahin gehen, wo mein Leben am wenigsten geschützt ist.” In rasender Geschwindigkeit, so als ob sie ihren nahen Tod ahnte, legt sie ihre Gedanken nieder. Ris zu ihrer Abreise am 14. Mai schreibt sie vier Notizhefte voll, die der heuer erschienene dritte Rand der „Cahiers” vereinigt.

Sie fragt nach dem Leben, das absurd und widersprüchlich ist. Allein dieser Widerspruch jedoch „läßt uns erfahren, daß wir nicht alles sind. Der Widerspruch ist unser Elend, und das Gefühl für unser Elend ist das Gefühl für die Wirklichkeit. Denn unser Elend stellen wir nicht her. Es ist wahr. Deshalb muß man es lieben. Alles andere ist imaginär.” Simone Weil denkt über Gut und Rose nach, das Leiden und die Reziehung des Menschen zu Gott. „Wir fliehen die innere Leere, weil Gott sich in sie einschleichen könnte.”

Überhaupt ist ihre Religio sität ein Phänomen, das sich nicht in Kategorien fassen läßt. Sie war Kind einer assimilierten jüdischen Familie, hatte aber im Elternhaus nie irgendeine Unterweisung im jüdischen Glauben und identifizierte sich nicht mit dem Judentum. Ähnlich wie Edith Stein fühlte sie sich lange Zeit als Atheistin. „Von zwei Menschen ohne Gotteserfahrung ist der, welcher ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten”, deutete sie den Atheismus als Askese, als Verzicht auf Gott, als Phase des Glaubens selbst.

Weil schreibt in einem Rrief von 1942 an Pater Jean-Marie Perrin, daß sie sich schon in ihrer Jugendzeit als christlich empfand. „Darum”, bekennt sie, „ist es mir niemals in den Sin gekommen, ich könnte in das Christentum eintreten. Ich hatte den Eindruck, darin geboren zu sein.” Im „Lettre ä un religieux” ist zu lesen: „Wenn ich das Neue Testament lese, die Mystiker, die Liturgie, wenn ich die Messe feiern gehe, fühle ich mit einer Art Gewißheit, daß dieser Glaube der meine ist — oder genauer — sein würde ohne die Entfernung, welche sich zwischen mir und ihm, meiner Unvollkommenheit wegen, befindet.” Was sie daran hinderte, in die Kirche einzutreten, war ihr eigener Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit. „Christus liebt es, daß man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzugehen, so wird man nicht weit wandern, ohne in seine Arme zu stürzen.” In ihrem „Nein” zur Kirche betrachtet sie sich schließlich auch als Anwältin all jener, die außerhalb der Kirche sind oder sein müssen, Heiden, Ketzer, nichtchristliche Kulturen.

Simone AVeils Absolutheitsan-spruch drückt sich auch im Schreiben aus. Sie fragt nicht wirklich, sondern stellt Rehauptungen auf. „Im Traum gibt es keine Unmöglichkeit. Im Traum gibt es nur Machtlosigkeit”. -„Nur der Zweifel hilft”. - „Man besitzt nur, worauf man verzichtet. Worauf wir nicht verzichten, das entzieht sich uns”.

Gerade ihre apodiktische Art läßt aber nicht unberührt. Schon zu Lebzeiten wollte sie weder Nachahmer noch „Fans” gewinnen, sondern Menschen zum eigenständigen Denken bringen. Mit ihren Schülerinnen in Auxerre liest sie Originaltexte von Descartes, Kant und Piaton anstatt aus Schulbüchern und lehrt sie so philosophisches Denken - beim staatlichen Examen fallen sie aber durch. Auch für uns bleibt sie die nüchterne und strenge Diagnostikerin, die weder schmeichelt, noch Glück verspricht, sondern die „condition hu-maine”, die Lügen und Träume des modernen Menschen rücksichtslos aufdeckt. „Wir lieben die Wahrheit, solange sie uns gleichgültig läßt”.

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