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Keine Nahrung für fromme Gefühle

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Nachgelassene Werke von Simone Weil, 2. Band. Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einer Einführung von T. S. Eliot. München 1953, Köselverlag. 253 Seiten

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Nachgelassene Werke von Simone Weil, 2. Band. Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einer Einführung von T. S. Eliot. München 1953, Köselverlag. 253 Seiten

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Mit der deutschen Ausgabe der zahlreichen Aufzeichnungen der französischen Jüdin Simone Weil geschieht ohne Zweifel eine bedeutende verlegerische Tat. Denn diese Aufzeichnungen haben der Gegenwart etwas zu sagen.

Simone Weil ist ein Menschenschicksal des 20. Jahrhunderts. 1909 als Tochter wohlhabender jüdischer Eltern in Paris geboren, erwarb sie sich schon in frühester Jugend außerordentliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Literatur und Wissenschaften. Nach Beendigung ihrer Studien entschied sie sichfür das höhere Lehrfach und unterrichtete später an verschiedenen Lyzeen. Schon auf ihrem ersten Posten in Le Puy erregte ihr Eintreten für die in der Stadt streikenden Arbeiter Aufsehen. Mit Nachdruck vertrat sie den Behörden gegenüber die Forderungen der Arbeiter und veröffentlichte in einer Zeitschrift Artikel über die Arbeiterfrage. Nach einigen Jahren ließ sie sich sogar beurlauben, um die Bedingungen des Arbeiterlebens am eigenen Leib zu erfahren. Unter fremdem Namen ließ sie sich als Fräserin in den Renault-Werken einstellen, obwohl ihr Gesundheitszustand ein schwächlicher war. Ja, vom August 1936 an kämpfte sie sogar einige Monate an der Seite der Roten im spanischen Bürgerkrieg, wurde aber durch einen Unfall gezwungen, in die Heimat zurückzukehren. Im nächsten Jahr erlebte sie die Karwoche in Solesmes. Nach dem Einfall der deutschen Truppen in Frankreich im Sommer 1940 übersiedelte sie mit ihren Eltern nach Südfrankreich und lernte in Marseille den Dominikanerpater J. M. Perrin kennen und durch diesen auch den Philosophen Gustave Thibon. Abermals arbeitete sie einige Monate als Landarbeiterin. Im Frühjahr 1942 mußte sie mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten emigrieren. Noch im gleichen Jahr aber kehrte sie von New York nach England zurück, wo sie unter Maurice Schumann im Dienste der französischen Exilregierung stand. Ihre soziale Gesinnung offenbarte sich in dieser Zeit darin, daß sie sich freiwillig mit denselben Rationen begnügte, die ihren Landsleuten in Frankreich auf den Lebensmittelkarten zustanden. Durch die Entbehrungen verschlimmerte sich ihr Zustand derart, daß sie das Krankenhaus aufsuchen mußte und am 24. August 1943 im Alter von 34 Jahren starb. Dieses kurze Leben, reich an äußeren Schicksalen, war noch reicher in seiner inneren geistigen Entfaltung und Fruchtbarkeit. Die Aufzeichnungen Simone Weils, die aus ihrem Nachlaß gesammelt und von ihren Freunden Gustave Thibon und P. Perrin laufend herausgegeben werden, zeugen von einem außergewöhnlichen geistigen Ringen und Schaffen. In deutscher Uebersetzung sind uns erst zwei Bände zugänglich. Es handelt sich größtenteils um Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Eine Gesamtausgabe dieser Aufzeichnungen ist auch im Deutschen geplant. ..,.>■

Simone Weil ist nie katholisch geworden. Der innere Weg aber, den sie zurücklegte, führte sie tief in das christliche Denken hinein. Sie setzt sich damit in einem ganz seltenen Ernst auseinander. Sie denkt alles mit unerbittlicher Konsequenz zu Ende, scharf und nüchtern und doch mit seltener Sprach- und Ausdruckskraft. Der Titel -des vorliegenden Werkes scheint uns nicht ganz glücklich gewählt. Er nimmt auf den ersten Teil („Schwerkraft und Gnade“), der nur Briefe bringt, die aber schon viel Bedeutendes enthüllen, gar keinen Bezug und deutet den Inhalt des zweiten Teiles, der eine Abhandlung ist, nur teilweise an. Aber vielleicht war es schwer, für die hier zusammengefaßten Aufzeichnungen einen geeigneten Titel zu finden. Jedenfalls findet man bei der Lektüre viel mehr, als der Titel anzeigt. Simone Weil will in einer Welt, die den Fordetungen des Glaubens radikal widerspricht, den Glauben retten. Sie will, was sie erkennt, radikal verwirklichen. Vielleicht lag darin der Grund, weshalb sie niemals konvertierte. Bedeutende Geister sehen in den Aufzeichnungen Simone Weils etwas vom Bedeutendsten in der europäischen Nachkriegsliteratur. Wir können nicht alles unterschreiben, was Simone Weil in ihren Aufzeichnungen ausgesprochen hat. Aber ihre Gedanken rütteln uns auf und zwingen uns selbst zum Nachdenken. Die Lektüre ist keine Nahrung für fromme Gefühle, wohl aber für den suchenden Geist.

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