Simone Weil: Mystikerin auf der Schwelle

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Sie liebte Platon und das Neue Testament, sie war Jüdin und Christin in ganz spezifischer Weise. Am 3. Februar jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag der französischen Philosophin Simone Weil.

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Sie liebte Platon und das Neue Testament, sie war Jüdin und Christin in ganz spezifischer Weise. Am 3. Februar jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag der französischen Philosophin Simone Weil.

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Da steht sie, eine noch junge Frau, kurzsichtig, im Mönchgewand einer Monteuruniform, alles Weibliche verleugnend. Simone Weil, die Schöpferin eines Lebenswerkes, in dem Denken und Tun eins sind und die scheinbaren Gegensätze Mystik und Politik überzeugend zu einander finden. Geboren in eine agnostische assimiliert-jüdische Familie in Paris, weigert sie sich bereits mit fünf Jahren, Zucker zu essen. Sie will ihn den Soldaten an die Front schicken. Als junge Gymnasialprofessorin klopft sie 1931 mit den Arbeitslosen von Le Puy neben ihrem Schuldienst Steine. Solidaritäts- und Selbsterfahrungen sind 1934/35 auch ihre Einsätze als Fabrikarbeiterin und 1936 - letztlich durch einen Unfall verhindert - als Küchenhilfe im Spanischen Bürgerkrieg. Immer wieder hat sie rasende Kopfschmerzen. Sie liebt die Schriften Platons, das Neue Testament und die Bhagavadgita. Für ihren Tod im Alter von vierunddreißig Jahren war entscheidend, dass sie sich weigerte, mehr zu essen, als Frauen im besetzten Frankreich zur Verfügung stand. Auf ihrem Totenschein ist zu lesen: "Sie tötete sich selbst durch ihre Weigerung zu essen, während ihr seelisches Gleichgewicht gestört war."

Flucht aus dem Lager der Sieger

Ihr kurzes Leben lang wollte sie ihr Gewicht in die leichtere Waagschale werfen, um mit ihrer zerbrechlichen Person die Ungerechtigkeit der Welt aufzuwiegen. Und wenn Gott irgendwann tatsächlich bei den stärkeren Bataillonen wäre, dann würde sie sogar gegen diesen Gott zum Widerstand aufrufen, denn "das kann allenfalls nur ein Götze sein". Flucht aus dem Lager der Sieger ist für Simone Weil moralische Pflicht. Alles, was sich als Macht etabliert, erfährt ihre radikale Kritik, vom römischen bis zum stalinistischen Imperium.

Trotz ihrer Konsequenz im Denken und Handeln gilt der Befund Ingeborg Bachmanns: "Sie ist überall auf der Schwelle stehengeblieben." Bereits in den fünfziger Jahren hat die Dichterin in einem großen Radioessay auf Simon Weil aufmerksam gemacht, als außer "Schwerkraft und Gnade" noch kaum etwas in deutscher Sprache erschienen war.

Inzwischen sind in den vier Bänden "Cahiers" alle ihre Aufzeichnungen zugänglich, niedergeschrieben in Schulheften. Eine Fundgrube für Sätze, die mittlerweile zum Gemeingut der Negativen Theologie gehören: "Gottes Anwesenheit in der vollkommenen Abwesenheit." Schmerz, aber nur "eine Seele, die diese Leere erträgt, überwindet die Schwerkraft und wird frei für die Gnade!" Diese "Cahiers" sind eine unvollendete Kathedrale: alles nach oben offen, das schließende und schützende Gewölbe fehlt. Hitze, Kälte und nachts die Sterne haben Zutritt. Bei ihrer Lektüre gerät jede geistige Behausung, behaglich eingerichtet, völlig durcheinander. Grundfesten werden erschüttert und Bilder zerstört, die wir uns von Gott, der Welt und dem Ziel des Menschen gemacht hatten.

Jüdin oder Christin?

Oft entzündet sich das Interesse an der intellektuellen Asketin daran, ob sie nun - kurz vor ihrem Tod - gültig getauft worden sei oder nicht, und was es mit ihrer heftigen Ablehnung ihres Judentums auf sich habe. Katholischerseits ist ja offiziell noch immer eine deutliche Distanz zu spüren. Jüdischerseits regt sich inzwischen leise Versöhnlichkeit - trotz ihrer schroffen Ablehnung eines Großteils der hebräischen Bibel und vor allem ihres Schweigens zu den Gräueln der Schoa. Eine jüdische Zeitschrift bringt es auf den Punkt: "Sie war beides, jüdisch und katholisch - und gleichzeitig weder das eine noch das andere."

Und die Botschaft Simone Weils an die Kirche, für die sie "bereit zu sterben" war und zwar eher, "als in sie einzutreten"? So groß auch ihre Sehnsucht nach der Eucharistie war: Sie fürchtete, den Dogmatismus der Kirche "in ihr" nicht mehr in Frage stellen zu können. Das war der Inhalt vieler Briefe und Gespräche mit Priestern, bis wenige Tage vor ihrem Tod. Ihr Freund, der "Bauernphilosoph" Gustave Thibon, dem sie ihre "Cahiers" anvertraut hatte, beschreibt ihre Entscheidung: "Sie beschließt, bei jenem Verbund von Realitäten zu bleiben, den die Kirche noch nicht hat integrieren können oder wollen. Sie wird die Christin von draußen sein und herrlich daran erinnern, dass es auch Arme, Gedemütigte, Ungläubige, Ketzer, ganz andere Denkströmungen gibt. Sie steht auf der Schwelle, wartet auf Gott, reglos, unbeweglich, in Geduld, und trägt für immer in ihrem Herzen das Leiden Christi und all die guten Dinge, die Gott liebt, die die Kirche aber noch nicht anerkannt hat." Simone Weil sehnte sich nach einer wahrhaft "katholischen", also umfassenden, aber nicht vereinnahmenden offenen Kirche, die nicht den Anspruch erhebt, allein die Wahrheit zu haben. Sie war überzeugt, "dass es dabei für sie (die Kirche; Anm.) um Leben und Tod geht".

Simone Weils Verharren "auf der Schwelle" ist dem "solidarischen Fasten" gleichzusetzen, das ja ihr ganzes Leben bestimmt hatte. Solidarisch mit den außerhalb der Kirche Stehenden, den im Glauben Erfolglosen: "… mir ist nichts so schmerzlich wie der Gedanke, mich von der ungeheuren und unglücklichen Masse der Ungläubigen zu trennen."

Die Macht des Geldes

1942 ging Simone zuerst mit den Eltern nach New York, dann nach London, um sich endlich der Exilbewegung rund um de Gaulle anzuschließen. Aktiver Einsatz - in Frankreich oder als Krankenschwester an der Front - wurde ihr nicht erlaubt. Also brachte sie in den letzten Monaten ihres Lebens eine unglaubliche Fülle von Ideen zu Papier, religiöse wie politisch-philosophische. Darunter den nicht abgeschlossenen großen Essay "L'Enracinemen" ("Die Einwurzelung"), von vielen als ihr Vermächtnis bezeichnet. Diese Arbeit sollte der Entwurf für eine Charta sein, mit der man nach dem Krieg geistige und soziale Wiederaufbauarbeit leisten wollte.

Entwurzelung geschieht durch die Macht des Geldes ("indem es alle anderen Triebkräfte durch das Verlangen nach Bereicherung ersetzt"), durch Profitmaximierung im Wirtschaftsleben und durch ein Bildungswesen, das ausschließlich dem materiellen Erfolg dient. Einwurzelung hingegen meint Überschaubarkeit im Arbeits- und Lebenszusammenhang, meint Zugehörigkeit zu Tradition, Kultur und Religion, meint letztlich eine "Durchseelung der Arbeit".

Schönheit: die "Falle" Gottes

Simone Weils mystischer Weg führt über Begegnungen mit Kunstwerken: mit der Musik von Monteverdi, mit Mantegnas "Beweinung Christi" und Michelangelos Medici- Gräbern. Sie empfindet Gebete wie Poesie, rezitiert Poesie wie Gebete und erfährt dabei Ekstasen. Während der gregorianischen Gesänge der Karwochenliturgie in Solesmes erlaubte ihr "eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten und in der unerhörten Schönheit der Gesänge … vollkommene Freude zu finden". Die Schönheit zu lieben, darin sah Simone die "Falle, deren sich Gott am häufigsten bedient, um die Seele dem Hauch aus der Höhe zu öffnen." Nicht nur mit diesem Bild ist sie lebenslang eine Schülerin Platons geblieben.

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