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Abkehr von Axiomen

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Das bekannte Paradoxon, daß der Marxismus in jenem Kulturbereich, dem er entstammt und auf dessen gesellschaftliche Bedingungen er angelegt war, seit langem in einem politischen Niedergang begriffen ist, wogegen er in den früheren Bauernländern des Ostens zum Rang einer Staatsideologie aufsteigen konnte, erhellt von vornherein die Schwierigkeiten einer Prognose über seine Aussichten in der Zukunft, die noch dadurch erhöht werden, daß auch in einigen Staaten des Ostblocks eine ersichtliche Abkehr von marxistischen Axiomen im Gange ist. Nimmt man dazu die Vielschichtigkeit des Phänomens Marxismus, so wird eine präzise Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Marxismus noch um einige Grade schwieriger.

Am leichtesten ist noch die Frage nach der Zukunft des Marxismus als Weltanschauung zu beantworten. Soweit sich der Marxismus, der ja eine auf Wissenschaft beruhende Weltansicht sein möchte, in dieser Beziehung einer echten geistigen Auseinandersetzung stellt — was in den totalitären sozialistischen Staaten, in denen er seinen Weltanschauungsanspruch tatsächlich geltend machen kann, bekanntlich am wenigsten der Fall ist — findet er sich an den wissenschaftlichen Fortschritt gebunden, das heißt, er hat in sich keine Zukunft, da sich eine Weltanscl auung nicht auf Wissenschaft aufbauen läßt, deren Analysen immer nur Teilwirklichkeiten zugänglich sind. Die umwälzenden Erkenntnisse der Wissenschaft der letzten fünfzig Jahre bilden in dieser Hinsicht nur eine Bestätigung der tragischen Rolle einer Weltanschauung, die sich auf Gedeih und Verderb mit der Wissenschaft verbunden hat. Dazu kommt noch, daß der Marxismus inmitten der ungeheuren Gefährdung der Menschheit durch die heutige Kriegstechnik das Zeitgefühl des Menschen von heute nicht mehr anzusprechen vermag — denn ohne eine zunehmende

Aktivierung seiner religiösen, geistigen und moralischen Kräfte wird der Mensch derartigen Gefahren nicht Herr werden können.

Aber auch als sozialökonomische Ideologie hat der Marxismus kaum eine Zukunft. Hier wiederholt sich im Raume der menschlichen Gesellschaft die gleiche Komplexität der Strukturen, die von den Naturwissenschaften sowohl in der Welt der kleinen als auch der großen Dinge festgestellt wird. Es kann durchaus sein, daß wir uns in Zukunft Gesellschaftsformationen nähern, die mit den heutigen nicht mehr viel zu tun haben, aber diese Formationen werden dann nicht in einer klassenkämpferischen Auseinandersetzung gewonnen werden, sie werden ihren Antrieb vielmehr von der noch lange nicht ausgeschöpften geistigen Potenz des Menschen empfangen, wie auch schon die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte von dieser Potenz ihren Ausgang genommen hat. Bis es aber soweit sein wird, haben wir immer noch das Phänomen der pluralistischen Gesellschaft zu bewältigen, für das der Marxismus kein Organ hat.

Wohl aber wird der Marxismus als eine von mehreren Methoden wissenschaftlicher Gesellschaftsbetrachtung und -kritik weiterhin eine Zukunft haben. Er hat einen Zugang zur Gesellschaft erschlossen, der lange genug vernachlässigt wurde und der solange aktuell bleiben wird, solange es Klassenschichtungen mit einem ökono mischen Unterbau geben wird. In diesem Zusammenhang wird der Marxismus auch sein eigentliches S'elbstverständnis finden müssen, die historische Rolle, die er im westeuropäischen Kulturbereich in der Vergangenheit spielte und sicherlich noch einige Zeit auch in der Zukunft spielen wird.

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