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Aus der Wahrheit der fünf Sinne

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Der Herausgeber dieses umfangreichen Ruches, das mit zahlreichen Handzeichnungen und Photographien der Plastiken von Käthe Kollwitz illustriert ist, die aus dem Besitz der graphischen Sammlungen von Basel, Stuttgart, Bremen, Hamburg, Hannover und München stammen, ist der älteste Sohn der Künstlerin, Hans Kollwitz. Ihm standen zehn dicke Wachstuchhefte mit insgesamt 1700 Seiten zur Verfügung: die Tagebücher seiner Mutter, die die Jahre 1908 bis 1943 umfassen. Käthe Kollwitz, die 1867 in Königsberg geboren wurde und deren Todestag sich heuer zum 25. Mal jährte, war die Enkelin jenes Julius Rupp, der die „Freie evangelische Gemeinde“ begründete: ohne kirchliche Bindung wollten seine Jünger gemäß dem Matthäus-Evangelium leben, vor allem nach dessen Morallehre. Der Mann von Käthe Kollwitz war Kassenarzt in Nord-Berlin und Sozialdemokrat. Im ersten Kriegsjahr verliert Käthe

Kollwitz ihren jüngeren Sohn, sie ringt jahrelang mit ihrem großen Schmerz und sucht nach dem Sinn dieses frühen Todes. Erst 1932 wird auf dem Friedhof von Roggefelde bei Dixmuiden ihrem Sohn und seinen Mitgefallenen jenes Denkmal von ihrer Hand gesetzt, an dem sie zwei Jahrzehnte gearbeitet hatte. Auf eine überaus natürliche, man darf wohl sagen: echt weibliche Art harmonieren in ihr das Menschliche und das Künstlerische. Die Frühbegabte findet zunächst in Königsberg, dann in Berlin und in München gute Lehrer: Karl Stauffer-Bern und Ludwig Herterich. Max Klinger verehrt sie sehr, und ein von ihm gestiftetes Stipendium ermöglicht ihr einen einjährigen Italien-Aufenthalt. Im übrigen reist sie wenig: in früheren Jahren ist sie einmal kurz in Paris, einmal in Rußland, später auf einer Geseilschafts reise in Madeira. Ihr künstlerisches Schaffen ist eng an die Familie geknüpft: an die greise Mutter, den ständig überarbeiteten, später politisch verfolgten Mann, die beiden Söhne und die Enkel, von denen sie einen, ihren Liebling, der nach dem 1914 gefallenen Sohn Peter genannt ist, 1942 in Rußland verliert.

Käthe Kollwitz hat sich ihr Leben lang den „kleinen Leuten“, dem „Proletariat“, wie man damals sagte, verbunden gefühlt. Bereits 1918 tritt sie dem durchhaltewilligen Richard Dehmel im „Vorwärts“ entgegen: „Es ist genug gestorben. Keiner darf mehr fallen. Ich berufe mich auf einen Größeren, welcher sagt: Saatfrüchte sollen nicht vermählen werden.“ Dieser Größere ist Goethe, den sie am Ende ihres Tagebuches und ihres Lebens nocheinmal bedeutungsvoll zitiert: „Ich bin aus der Wahrheit der fünf Sinne.“ — Und auch der Titel dieses Buches ist Goethe entlehnt.

Sehr früh lernt Käthe Kollwitz den noch unberührniten Gerhart Hauptmann kennen und ist von der Uraufführung seiner „Weber“ so tief beeindruckt, daß sie einige Jahre später den Zyklus „Weberaufstand“ zeichnet. 1919 entsteht, uniter dem Einfluß Earlachs, ein Bild Karl Liebknechts, 1920 das Plakat für die Internationale Arbeiterhilfe und das Plakat „Wien stirbt. Rettet seine Kinder!“, 1921 „Helft Rußland“, wohin sie 1927 redst.

Die so vielen ihr tätiges Mitgefühl und ihre Hilfsbereitschaft erweist ist selbst von schweren Verlusten, Krisen und Depressionen nicht verschont. Was 1933 kam hat sie kaum überrascht: als eine der ersten tritt sie aus der Preußischen Akademie aus (der sie gerne angehört hatte), drei Jahre später bekommt sie Ausstellungsverbot. Noch 1943 setzt sie sich mutig, aber natürlich erfolglos, für die Ideale ihrer Jugend ein und weist den Vorwurf der „Gossenmalerei“ mit Entrüstung ab. Er wurde ja auch gegen Ernst Barlach erhoben, den sie unter ihren Künstlerkollegen am meisten verehrte und wegen seiner größeren Tiefe und Sicherheit (die sie ihm zuschrieb) beneidete. Den Ruhm hat sie nicht verachtet: „Verwöhnt, wie ich jetzt bin“, schrieb sie einmal in den zwanziger Jahren, „würde ich es schwer aushalten, wenn der Begriff K. K. aufhören würde, zu existieren.“ Aber sie hat seine Rehabilitierung nicht mehr erlebt...

„ICH SAH DIE WELT MIT LIEBEVOLLEN BLICKEN.“ Käthe Kollwitz — Ein Leben in Selbstzeugnissen. Herausgegeben von Hans Ko II witz. Fackelträger-Verlag Schmidt-Küster G. m. b. H., Hannover, 403 Seiten.

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