6613646-1955_17_04.jpg
Digital In Arbeit

Chancen fur Merzagora?

Werbung
Werbung
Werbung

Rom, April 1955.

Die Wahl des neuen Präsidenten der italienischen Republik ist durch das Amtsblatt in unfeierlicher, bürokratischer Weise für den 28. April angekündigt worden, wie es einem Ereignis zukommt, das zunächst nur die Politiker und erst in zweiter Linie die Nation betrifft. Die Verfassung erspart den Italienern eine mit Leidenschaft geführte Kampagne, wie sie Amerika und alle Nationen kennen, in denen das Staatsoberhaupt unmittelbar vom Volk gewählt wird. Der „Mann auf der Straße“ erfährt die Namen der Kandidaten erst im letzten Augenblick, und wenn er nicht gerade die Politik zu seinem privaten Steckenpferd gemacht hat, sagen sie ihm oft sehr wenig. Er muß sich in den Zeitungen über die Persönlichkeit und die Verdienste des Mannes unterrichten, der künftig das,Volk“ symbolisieren soll.

Es ist also die Zauberkiste des Parlaments, aus der der Name des neuen Staatspräsidenten herausspringen wird. Die Senatoren, 243 an der Zahl, versammeln sich mit den 590 Abgeordneten am 28. April um 10 Uhr vormittags zu einem ersten Wahlgang im Montecitorio-Palast, Sitz der Deputiertenkammer. Zum ersten Male werden auch die zehn Vertreter der Regionalautonomien Siziliens, Sardiniens, des Südtirol-Trentino und des Aosta-Tales beigezogen, und zwar nach einiger Unschlüssigkeit, denn die Verfassung würde die Teilnahme der Vertreter aller Regionen vorsehen. Da jedoch die Regionalordnung noch nicht Wirklichkeit geworden ist', beschränkte man die Einladung auf die Regionen mit Sonderstatut.

Luigi Einaudi, nach De Nicola bisheriger Präsident, hat die Hauptstadt verlassen, um jedem Schein einer direkten oder indirekten Beeinflussung des Parlaments vorzubeugen. Aber selbst wenn das Parlament, aus Höflichkeit oder Opportunität, ihm eine neue Kandidatur anbieten sollte, dürfte die Annahme ausgeschlossen sein. Einaudi hat das 81. Lebensjahr überschritten, und wenn es auch wahr ist, daß das politische Leben jung erhält — Gladstone, Giolitti, Bismarck, Churchill könnten als Beispiele angeführt werden —, so zögert der Gelehrte Einaudi doch, die Rückkehr zu den Büchern um weitere sieben Jahre aufzuschieben. Offizielle Kandidaten sind bis zu diesem Augenblick nicht genannt worden, dafür ist die Zahl jener um so größer, die als mögliche Prätendenten für den Quirinal in Frage kommen. Nur der Führer der Linkssozialisten, Pietro Nenni, hat erklärt, daß nach dem Piemontesen Einaudi wieder die Reihe an einem Mann aus dem Süden wäre. Er erwähnte den Liberalen Arangio-Ruiz, der in der Widerstandsbewegung eine Rolle gespielt hatte. Aber auf der Reise von Rom nach Turin änderte Nenni seine Meinung, denn zur allgemeinen Ueberraschung plädierte er auf dem Parteikongreß für die Kandidatur Ferruccio Parris. Diesem Politiker werden also die Stimmen der extremen Linken zufließen.

P a r r i war Italiens erster Ministerpräsident nach dem Sturz des Faschismus; unter dem Decknamen „Maurizio“ war er Haupt der freiwilligen Widerstandskämpfer gewesen, Exponent der inzwischen aufgelösten Aktionspartei, dann der Republikaner. Jetzt ist er Führer einer politischen Splittergruppe ohne Anhang, der sogenannten „Unitä Popolarc“, die bei den Wahlen im Jahre 195 3 nicht einmal ihn ins Parlament zu schicken vermochte. Er schlägt sich für die vollkommene Demokratie, aber seine Sympathien für die extreme Linke lassen viele befürchten, daß die Volksdemokratie gemeint ist. Seine Aussichten als Präsidentschaftskandidat sind demnach gering.

Sozialdemokraten, Republikaner und Liberale sind sich darüber einig, daß die „weltliche Tradition“ des Quirinais aufrechterhalten bleiben müßte. Als Gegengewicht zu allzu starken kirchlichen Einflüssen hat der Quirinal schon zu den Zeiten der Monarchie symbolische Bedeutung gehabt, und die Anhänger der Republik sind weit davon entfernt, eine solche ideologische Kontinuität zu verlangen. Nun hat jedoch die katholische Partei Italiens, die Demo-crazia Cristiana, ihren Entschluß angekündigt, diesmal einen eigenen Kandidaten aufstellen zu wollen, was bedeuten will, daß die katholischen Massen endgültig von dem demokratischen und republikanischen Staate Besitz erg#eifen sollen. Eine späte Revanche für den 20. September 1870 also, für die Auflösung des Kirchenstaates, eine Hypothek des Vatikans auf den Quirinal? Diese Besorgnisse kommen von liberaler Seite her.

Noch ist nicht bekannt, auf wen die Wahl der Christlichen Demokraten fallen soll. Die meistindizierte Persönlichkeit ist der Präsident der Partei selbst, Adone Zoli. Obwohl Nachfolger Degasperis in diesem Amt, hat die Präsidentschaft nur noch ehrenamtlichen Charakter. Der 6 Sjährige ehrenamtliche Advokat aus der Romagna ist ein typischer Vertreter seiner engeren Heimat, ein „Mann mit dem weichen Kern in der rauhen Schale“, mitteilsam, gesellig, aufgeschlossen, energisch, ein Freund der guten Tafel, herzlich und großmütig, kurz, ein Spiegelbild des Italieners aus dem Volke und daher diesem sicherlich genehm. Die Familie Zolis stammt aus Predappio, und nur einem Zufall hat es der einstige Justizminister su danken, daß er in Cesena und nicht in dem ominösen Orte geboren wurde, in dem Mussolini das Licht erblickte. Aber außerhalb der Partei oder von Florenz, wo er durch Jahrzehnte seine Rechtsanwaltspraxis ausübte, ist Zoli wenig bekannt. Die Nation müßte ihn als eventuellen Neupräsidenten erst kennenlernen.

Auch der Kandidat der Sozialdemokraten, der-Fraktionsführer Paolo P. ossi, besitzt bei allen seinen Vorzügen keine Popularität. Als Widersacher des Faschismus Verfolgungen ausgesetzt, hat sich der Genueser Advokat im Jahre 1945 gegen das damalige System der politischen Epuration ausgesprochen. Toleranz und Versöhnlichkeit kennzeichnen den Mann, der die Stille seines Heimes, Bücher und schöne Dinge dem politischen Lärm vorzieht. Wäre Rossi im Jahre 1947 an der Spitze der Sozialdemokraten gestanden und nicht Saragat, heißt es unter den Sozialisten, dann wäre die Spaltung vermieden worden und besäße Italien heute eine autonome sozialistische Partei von Gewicht.

Die Monarchisten wollen diesmal der Wahl des Präsidenten der Republik nicht fernbleiben, sondern mitstimmen. Ihr Kandidat dürfte jedoch nicht ein Mann der eigenen Partei sein, sondern der ehemalige christlichdemokratische Ministerpräsident Giuseppe Pella. Pella, dem äußersten rechten Flügel seiner Partei angehörend, genießt die Sympathien der sogenannten „nationalen“ Kreise, weil er an der Widerstandsbewegung keinen Anteil hatte. Seine großen Fähigkeiten als Finanzpolitiker werden nicht angezweifelt. Doch der Piemontese Pella ist erst 53 Jahre alt und fühlt sich zu sehr aktiver Politiker, um sich in den Quirinal schicken zu lassen. Der Grund ist gut genug, um eine Kandidatur abzulehnen, die seiner eigenen Partei und mehr noch ihm selbst Verlegenheit bereiten würde.

An der Democrazia Cristiana, die im Parlament über 390 Sitze verfügt, wird es liegen, den ersten Vorschlag zu machen. Die Erfahrungen der Wahlen im Jahre 1948 haben jedoch gezeigt, daß die ersten Wahlgänge mehr der Erklärung eines Prinzips und der Sondierung dienen, als den Präsidenten bringen. Die in den' ersten drei Wahlgängen erforderliche Zweidrittelmehrheit ist bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen unerreichbar. Luigi Einaudi erhielt zunächst nur 20 Stimmen und lag weit hinter Sforza und De Nicola. Erst im vierten Wahlgang, nach der Zurückziehung Sforzas, vereinigte er die erforderliche einfache Stimmenmehrheit auf sich. Es ist demnach nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, daß auch am 28. April ein Außenseiter als Erster durchs Ziel kommt.

Dieser Outsider könnte der Senatspräsident Cesare Merzagora sein. Der Verfassung nach steht er bereits jetzt der Stellung des Staatspräsidenten am nächsten. Die Christlichen Demokraten haben wenig Aussicht, einen eigenen Kandidaten, etwa Zoli, durchzubringen, für den weder die übrigen Parteien der Koalition noch die Rechte (weil Widerstandskämpfer) noch die extreme Linke stimmen würden. Es sei denn, daß die Sozialisten Nennis, dem auf dem Parteikongreß in Turin angedeuteten „neuen Kurs“ folgend, ihre Zusammenarbeit mit den Katholiken zum ersten Male bei der Präsidentenwahl, an der Spitze und nicht an der Basis des Staates, erproben wollen. Es wäre dies eine politische Sensation ersten Ranges und voll weitreichender Folgen. Cesare Merzagora hingegen hat eine ganze Reihe guter Karten in der Hand: politisch steht er den Christlichen Demokraten nahe, ist jedoch Unabhängiger. Er selbst erklärte einmal scherzhaft, daß er nur ein „Zufallspolitiker“ sei. Tatsächlich trat er erst im .Mai 1947, von Degasperi gerufen, in die Regierung als „Fachmann“ ein. Industrieller,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung