Die Einfalt der Regionen

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20 Regionen in Europa streben nach nationaler Selbstständigkeit. Soll man sie alle gewähren lassen? Ja, wenn man auch über Risiken und Nebenwirkungen spricht.

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20 Regionen in Europa streben nach nationaler Selbstständigkeit. Soll man sie alle gewähren lassen? Ja, wenn man auch über Risiken und Nebenwirkungen spricht.

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Es ist ja gut, dass alle Völker der EU ihre Freiheit haben. Es ist gut, dass die Schotten über ihre Unabhängigkeit entscheiden konnten. Und es ist auch gut, dass es weitere 20 Volksgruppen gibt, die nach Autonomie oder einem eigenen Staat streben können. Vielleicht wäre es aber schon aufgrund der schieren Anzahl solcher Bestrebungen für die Politik an der Zeit, sich etwas näher mit den Gründen zu befassen, die so viele Europäer antreiben, sich das Kleine, das Regionale, das Nationale, das Autonome zu wünschen. Und wenn die unangenehme Botschaft dieser Bürger lautet, dass sie kein Vertrauen mehr in die großen Einheiten haben und dass ihnen die Welt unheimlich geworden ist - zu schnelllebig, unübersichtlich - umso besser. Vielleicht käme ja einmal einer der politischen Masterminds der Europäischen Union auf die Idee, dass nicht alles sakrosankt ist, wo Regionalität und Vielfalt draufsteht; dass Region und Volksgruppenidentität nicht immer gleich Nachhaltigkeit, Geborgenheit und ausgeglichene Lebensführung bedeuten müssen - weder auf Baskisch, noch auf Sorbisch noch auf Katalan.

Man sollte einmal hinter die netten Kulissen der Kleinheit und des Lokalkolorits von Tracht, Küche und sonstigen Äußerlichkeiten steigen. Dahinter wird man auf lokalpolitischer Ebene häufig nicht europafreundliche Vielgestalt entdecken, sondern die Tatsache, dass von jedem regionalen Misthaufen ein anderer Hahn mit regionalen Eigeninteressen kräht.

Die Lähmung nach innen

Wer einmal an einem EU-Gipfel teilgenommen hat, bei dem ein EU-Vertrag beinahe an der Milchquote für die Azoren gescheitert wäre, kann sich schon jetzt endlose Diskussionen um katalanische Würste oder korsischen Käse auf Staatschefniveau ausmalen. Statt einer vielbefürchteten Lähmung durch eine weitere Erweiterung der Union gäbe es eine Zersplitterung nach innen - und damit auch Lähmung. Es geht so gesehen nicht um die lustige "Einheit in der Vielfalt" in Europa, sondern um die Auflösung Europas in der Einfalt der Regionen.

Autonomie und Eigenstaatlichkeit aber passen in eine Zeit, in der so oft gefordert wird, mehr Rechte von Brüssel an die Regionen und Staaten zurückzugeben. Das klingt gut, denkt man an dumme Brüsseler Bürokratie-Petitessen wie Gurkenkrümmung und Dekolleté-Richtlinie.

Die Benennung der Verantwortung

Wenn es aber um die wahren Krisen der EU geht, zeigt sich, dass dafür nicht die EU-Institutionen oder -Verträge verantwortlich waren sondern Nationalpolitiker. Das gilt auch für den schwersten dieser Fälle, die Eurokrise: Frankreich und Deutschland brachen zunächst nonchalant den Stabilitätspakt, ehe Griechenlands politische Kleptokratur der Währung beinahe den Todesstoß versetzt hätte. Die Macht muss also nicht unbedingt nach unten bis zu jedem Regierungschef oder Provinzkaiser dekliniert werden, wenn die Interessen der Europäer vertreten werden sollen, sondern umgekehrt. In diesem Sinn wäre weniger tatsächlich mehr. Weniger Nationalstaat - mehr Europa.

Auch ökonomisch sind Splitterstaaten ein Anachronismus. Wirtschaftsräume entwickeln sich nicht durch Grenzen, sondern vorzugsweise ohne sie. Wer also einen eigenen Staat will, muss ihn sich leisten können. Schottland hätte durch seine Ölvorkommen damit wohl Probleme gehabt. Aber denkt man an Sizilien oder die Niederlausitz, drängen sich statt rosiger Erwartungen dumpfe Ahnungen von Provinzen auf, die nicht Blüten der Unabhängigkeit, sondern Auswüchse der Zurückgebliebenheit sind. Bei aller Sympathie für die Vielgestalt der Völker: Die EU hat die großen Grenzen nicht niedergerissen, damit jeder Volksstamm sich mit neuen Palisaden umgibt und das als Freiheit verkauft. Europas Idee ist, dass Freiheit und Frieden dort sind, wo Grenzen nicht sind. Und wenn es eine politische Idee gibt, die noch nicht widerlegt wurde, dann ist es genau diese.

oliver.tanzer@furche.at | @olivertanzer

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