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Die neuen Machthaber

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Die Bundesverfassung hat offensichtlich nicht mit dieser „verdauenden“ Funktion der Parteien gerechnet. Sie hat vielmehr Spannungen zwischen Bund und Ländern vorausgesetzt und durch entsprechende Institutionen (zum Beispiel Verwal-tungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit) dafür gesorgt, daß diese Spannungen rechtsförmUchen Austrag finden. Einer Konstitution'allsierung der Kämpfe und Konflikte zwischen den Parteien, ja, einer Institutionalisierung der Parteien selbst Ist sie — von Ausnahmen abgesehen — aus dem Wege gegangen.

Die Verfassung erfüllt ja überhaupt mehr Postulate des 19. als solche des 20. Jahrhunderts. Allen Forderungen, die seitens des Volkes und seiner Vertreter aus einer oppositionellen Stellung zum Monarchen (und damit zum Staat) seinerzeit gestellt wurden (zum Beispiel Bindung der Verwaltung an das Gesetz, Selbstverwaltung, Verwaltungsgerichtsbarkeit), wird die Verfassung voll gerecht. Staatsrechtliche Einrichtungen der konstitutionellen Monarchie überlebten den Monarchen. Und sie sind dabei, sich selbst zu überleben.

Die neuen Machthaber sind die politischen Parteien; sie sind — so merkwürdig es klingen mag — die tatsächlichen politischen Nachfolger des Monarchen. Sie haben heute, wie Maräi treffend hervorhebt, die konstitutive und integrative Funktion für das Staatswesen und im Staatswesen. Gerade diese ausgleichende und einheitsstiftende Rolle war aber seinerzeit die Funktion des Monarchen. Heute ist die Abwehr-und Angriffsrolle der Parteien in Richtung Staat überholt. Das Gemeinwesen zerfällt nicht mehr in zwei Welten: in Staat (Monarch) und Gesellschaft (Parteien, Volk); es besteht vielmehr aus Mehrheit und Minderheit, die gemeinsam den einen Staat ergeben (Maräc). Trotz der neuen Rollen bedienen sich die Parteien der alten verfassungsrechtlichen Formen. Es dürfte sich um einen Vorgang handeln, den Duver-ger als Technik des Einsiedlerkrebses bezeichnet.

Diese Technik besteht darin, daß ein staatsrechtliches Grundgerüst, das seines Inhalts und seiner Bedeutung entleert ist, als äußere Aufmachung beibehalten wird, einem leeren Schneckenhaus vergleichbar, in dessen Inneren ein ganz anderes Prinzip sich einnistet. Dabei sei zugegeben, daß gewisse Forderungen des 19. Jahrhunderts Ewigkeitswert haben; so alle Einrichtungen, die dem Rechtsschutzinteresse des einzelnen dienen, wie die Richterautonomie, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Verhältnis von Legislative und Exekutive und die Rolle der Parteien müssen aber neu konzipiert werden.

Die Vorstellungen, die der einzelne Staatsbürger von der Staatsstruktur hat, stammen ebenfalls weitgehend aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie. Noch immer denken wir den Staat in der Trennung der drei Gewalten. Wir vergessen dabei, daß das Moniesquieusche Konzept der Dreiteilung der Staatsfunktionen zweokorientiert war. Es war als zeitgemäße institutionelle Grantie der persönlichen Freiheit und als Garantie gegen Machtmißbrauch gedacht. Sein großes Anliegen war, die vorhandenen sozialen Mächte in der staatlichen Organisation entsprechend einzusetzen und in die notwendige Gleichgewichtslage zu bringen. Als „säkularisierte Trinität“ (Marti) wurde die Gewaltentrennung zum absoluten Dogma und schließlich zum Denkklischee, obwohl in der modernen parlamentarischen Demokratie nur noch die Scheidung zwischen Legislative und Exekutive einerseits und Justiz anderseits aktuell geblieben ist.

Die Vorstellung der Gewaltentrinität ist heute wirklichkeitsfremd geworden. Gesetzgebung und Verwaltung sind in der parlamentarischen Demokratie längst nicht mehr getrennt, sondern personelle und funktionelle Einheit. Die Gewaltenteilung ist heute eine Organisationsmethode geworden, ein technisches Hilfs- und manchmal sogar ein Aushilfsmittel (Martin Draht).

Gewisse Strukturen des Gemeinwesens bleiben allerdings konstant. So die Dualstruktur aller Staatlichkeit. Geht man von der Grunderfahrung aus, daß sich die politischen Möglichkeiten meist in dualistischer Form darbieten (Duverger), ist der Dualismus der Richtungen, der Parteien und die Zweiheit als Gestaltungsprinzip des Staates selbstverständlich. Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Als Beispiele seien erwähnt: das Doppelkönigtum, die Kollegialität der Magistrate und die organisierte Opposition (Volkstribun) in Rom; Kaiser und Papst, König und Stände im Mittelalter usw.

Zu Beginn der Neuzedt — so lehrt uns Duverger — wurde an Stelle der Opposition von außen die Opposition im Innern der staatlichen Organisation geschaffen. Einer solchen Rivalität, wodurch „die Gewalt durch die Gewalt begrenzt wird“, entspricht das Zweikammersystem.

Die Entwicklung der politischen Parteien hat zugleich mit einer Umwandlung des klassischen Schemas der Gewaltentrennung (Einheit von Legislative und Exekutive) die Aufgabe der Opposition selbst wieder verwandelt, indem sie nun wieder außerhalb der Verfassungsorganisation in den Minderheitsparteien als Nachfolgerin der Volkstribunen in Erscheinung getreten ist (Duverger). Wieder ist die Opposition im wesentlichen außerhalb der staatlichen Organisation.

Da für den modernen Staat der westlichen Weit die organisierte Opposition wegen ihrer Kontroll-funktion von größtem Interesse ist, wäre es vernünftig, edne Institutionalisierung der Opposition zu versuchen. Dies könnte auch zu einer Erneuerung des Parlamentarismus führen. Durch eine Neukonzeption des Zweikammersystems könnte die Ausübung der Herrschaft und ihre Kontrolle zeitentsprechender werden. Eine moderne demokratische Verfassung soll die Regierung — die Mehrheitspartei(en) — möglichst aktionsfähig, die Opposition — die Minderheitspartei(en) — möglichst kontrollfähig machen.

Betrachtet man die konkrete politische und rechtliche Situation in Österreich, so ist zwar die Aktionsfähigkeit der Regierung weitgenend gewährleistet, weniger aber die Kontrollmöglichkeit der Opposition.

Hier soll versucht werden, aufzuzeigen, wie die Opposition institutionalisiert werden und der Spannung zwischen Regierung und Opposition — Mehrheit und Minderheit — eine verfassungsorganisatorische Entsprechung gegeben werden könnte:

Nationalrat und Bundesrat könnten durch eine Regierungs- und eine Oppositionskammer ersetzt werden. Beide Kammern zusammen wären das Parlament. In der Regierungskammer hätte die Mehrheit Sitz und Stimme, in der Oppositionskammer die Minderheit. Die Bundesregierung (das Kabinett) und die Oppositionskammer wären Träger der Gesetzesinitiative. Die Regierungskammer allein hätte das Recht, diese Vorschläge zum Gesetzesbeschluß zu erheben; sie allein könnte das Parlament durch Beschluß zwecks Neuwahl auflösen. Die Oppositionskammer hingegen hätte das Recht, gegen Gesetzesbeschlüsse einen mit Gründen versehenen Einspruch zu erheben und ein suspensives Veto wie jetzt der Bundesrat, bei Verfassungsgesetzen ein absolutes Vetorecht (Ebenbürtigkeit beider Kammern bei der Verfassungsgesetzgebung); sie allein wäre Trägerin der politischen Kontrollrechte (Interpellations-, Re-solutions-, Enqueterecht); sie allein hätte das Recht auf Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof und das Recht, Anträge an den Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit und von Verordnungen auf ihre Gesetzmäßigkeit zu stellen, also die Kontrolle des Verfassungsgerichtshofes über eine Entscheidung der Mehrheitspartei anzurufen. Das Mißtrauensvotum des Parlaments und das Parlamentsauflösungsrecht des Bundespräsidenten wären abzuschaffen.

Die Wahl würde zwischen den Parteien dergestalt entscheiden, daß die Partei mit der höchsten Stimmenoder Mandatsanzahl in die Regierungskammer einzieht und regiert und daß die übrigen Parteien in die Oppositionskammer einziehen und kontrollieren.

Das Volk hätte also bei der Wahl die Entscheidung zu fällen, welche Parteigruppe zu regieren und welche zu kontrollieren hat. Der Wähler trüge die große Verantwortung eines Schiedsrichters im Wettbewerb der Parteien.

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