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Herrschaft der Minderheitenregierungen

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Aus der Zeit stammt auch seine persönliche Abneigung gegen Celal Bayar, der ihn 1950 nach dem Sieg der Demokratischen Partei als Staatspräsident ablöste. Während des „Menderes-Dezenniums“ spielte Inönü lautstark den Führer der Opposition. 1961 wurde er erneut von der revolutionären Militärjunta zum Regierungschef gemacht. Er mußte sich jedoch bald mit einer starken Opposition in Gestalt der Gerechtigkeitspartei auseinandersetzen, die das politische Erbe des hingerichteten Menderes angetreten und schon bei den Parlamentswahlen 1961 überraschend gut abgeschnitten hatte. Damals hielt es Inönü für das beste, mit der Gerechtigkeitspartei eine Koalition einzugehen, die infolge zu weitgehender Meinungsverschiedenheiten nur ein halbes Jahr dauerte. Dann versuchte es Ismet-Pascha mit einer Koalitionsregierung seiner Republikanischen Volkspartei, mit der Partei der Neuen Türkei und der Nationalen Bauernpartei. Diese beiden kleinen Parteien schrumpften jedoch durch zahlreiche Austritte von Abgeordneten immer mehr zusammen, so daß sie keine brauchbaren Koalitionspartner mehr abgaben. Im letzten Jahr regierte daher Inönü nur noch mit Hilfe von ziemlich unverläßlichen „Unabhängigen“. Auf der anderen Seite hatte die Gerechtigkeitspartei seit ihrem überwältigenden Sieg bei den Gemeindewahlen im November 1963 starken Auftrieb erhalten und drängte immer mehr an die Macht. Seit damals gab es praktisch nur eine Minderheitenregierung, die sich auf höchstens 204 der 450 Abgeordneten stützen konnte. Bei Nachwahlen zum Senat konnte die Gerechtigkeitspartei in der zweiten Kammer sogar die Mehrheit erringen.

Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse war es klar, daß der Regierung Inönü keine allzu lange Regierungsdauer mehr beschieden war. Lediglich die durch die Zypernfrage ausgelöste ernste Lage der türkischen Nation verhinderte bisher eine Regierungskrise größeren Ausmaßes. Noch im Jänner versuchte Inönü durch Auswechseln mehrerer Minister seinem Kabinett einen dynamischeren „new look“ zu geben, doch konnte dies den Sturz der Regierung nicht mehr aufhalten. Eine entscheidende Rolle hat hierbei auch die seit langem geplante Agrarreform gespielt, die infolge des erbitterten Widerstandes der Großgrundbesitzer noch nicht durchgesetzt werden konnte. Auch das neue Wahlgesetz, welches den Termin für die im Frühjahr fälligen Neuwahlen auf den 10. Oktober 1965 verschob, war Gegenstand heftiger Kritik von allen Seiten gewesen!

Mit seiner außenpolitischen Linie der Annäherung an die Sowjetunion, die unter anderem durch einen Türkeibesuch des ZK-Mitgliedes Podgorny an der Spitze einer Parlamentsdelegation zum Ausdruck kam, hatte Inönü überdies viele ihm bisher treu ergebene Offiziere vor den Kopf gestoßen. Der durch die Enttäuschung über die Haltung der westlichen Verbündeten im Zypernkonflikt hervorgerufene Stimmungswechsel in der Armee war äußerstenfalls neutralistisch, nie jedoch prorussisch!

Durch die Ernennung des ehemaligen Senatspräsidenten Suat Hayri Ürgüplü zum Ministerpräsidenten hat die durch die vier Oppositionsparteien etwas brüsk inszenierte Regierungskrise ihr vorläufiges Ende gefunden. Ürgüplü ist zwar nach außen ein Unabhängiger, steht aber der Gerechtigkeitspartei nahe. Er wurde von Staatspräsident Gürsel selbst vorgeschlagen, während die Gerechtigkeitspartei überraschend den ziemlich unbekannten Rektor der Universität Ankara, Ihsan Dogru-maci, nominierte. Vizeministerpräsident wurde schließlich doch der Chef der Gerechtigkeitspartei, Süleyman Demiral; der sich damit auf einen „Warteposten“ begibt. Die 23 Mini-sterportefeuilles sollen folgendermaßen aufgeteilt werden: Je vier entfallen auf die kleinen Partner der neuen Koalition zum Dank für ihre Schützenhilfe, zehn auf die Gerechtigkeitspartei; das Außenministerium wurde einem Parteilosen anvertraut.

Die Bestellung einer offiziell „unabhängigen“ farblosen Persönlichkeit zum Ministerpräsidenten sowie die Zusammensetzung des Kabinet-tes zeigen, daß der Regimewechsel nur schrittweise vollzogen werden soll. Dies geschieht offenbar mit Rücksicht auf die als selbständige politische Kraft auftretende Armee, die für die Errungenschaften ihrer Revolution vom 27. Mai 1960 fürchtet und die einem allzuraschen und vollständigen Übergang der Macht auf die Nachfolger der Menderes-schen Demokraten ablehnend gegenübersteht. Generalstabschef Cevdet Sunay hat diese Haltung im abgelaufenen Jahr deutlich zu verstehen gegeben und sogar mehrmals durch scharfe Ultimaten in den Parteienstreit eingegriffen.

Es gibt jedoch schon jetzt kaum einen Zweifel, daß nach einem Wahlsieg der Gerechtigkeitspartei ihr neuer Führer, Demirel, auf den ersten Platz rückt und den Mini-sterpräsidentensessel erhält. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß die Gerechtigkeitspartei ihren Einfluß in der jetzigen Übergangsregierung dazu benützen wird, eine Vorverlegung der Parlamentswahlen zu erreichen. Die Regierungsparteien verfügen derzeit über 225 Sitze in der Nationalversammlung. Mit Demirel hat die Gerechtigkeitspartei den lang ersehnten aktiven jungen „leader“ gefunden, der nicht durch die Vergangenheit kompromittiert ist. Er ist einer jener dynamischen, westlich erzogenen Unternehmer, die im Wirtschaftsleben Istanbuls und Izmirs dominieren und die schon immer im Gegensatz zu dem starren Etatismus der vor allem in Ankara beheimateten Volkspartei standen. Die USA haben Demirel — er ist von Beruf Generalvertreter eines amerikanischen Unternehmens in der Türkei — jedenfalls mit einem Vertrauensvorschuß bedacht und US-Botschafter Kare hat ausgezeichnete Kontakte zu ihm. Zweifellos wird Demirel, sollte er an die Spitze der türkischen Regierung treten, die engen Beziehungen zum Westen und insbesondere zu den Vereinigten Staaten wieder in den Vordergrund stellen. Die Entscheidung über die Ausrichtung der türkischen Politik liegt nun mehr denn je in den Händen der türkischen Wähler, vorausgesetzt daß die türkische Armee .diesen Volksentscheid zur Gänze anerkennen wird.

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