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Vor großen Aufgaben

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Wie sehr seit 1945 die Dinge im Fluß sind, kann man kaum auf einem anderen Gebiet so deutlich wahrnehmen, wie in der Wirtschaftspolitik. Nach einer erstaunlich kurzen Zeit des Wiederaufbaues, in der z. B. baukapazitätsmäßig ein Vielfaches gegenüber gleichen Zeiträumen der vergangenen Jahrzehnte geleistet wurde, entwickelte sich in fast allen Staaten eine wirtschaftliche Prosperität, die man 1945 niemals für möglich gehalten hätte. Man geht nicht fehl, wenn man die Ursache für diese rasche Aufwärtsentwicklung der Weltwirtschaft im Grundsätzlichen sucht. Während die verantwortlichen Wirtschaftspolitiker der dreißiger Jahre noch tief in der klassischen Nationalökonomie verhaftet waren, derzufolge Eingriffe in den selbsttätigen Ablauf des Wirtschaftsgeschehens ausgeschlossen waren, bekannte man sich nach 1945, nicht zuletzt unter dem Zwang, die darniederliegenden Volkswirtschaften um jeden Preis aufzurichten, sehr bald zu den Grundsätzen einer aktiven Konjunkturpol i- t i k. Das heißt nicht, daß das dirigistische Kriegswirtschaftssystem oder das kommunistische Staatswirtschaftssystem in Teilen übernommen worden wären, sondern man geht heute von dem Grundsatz aus, daß wirtschaftsfördernde Maßnahmen der Gemeinschaft nur subsidiär, aber dann wirklich anzuwenden sind: Mit anderen Worten: die aktive Konjunkturpolitik überläßt zunächst die Wirtschaft ihrer Eigengesetzlichkeit, greift aber dort ein, wo diese Eigengesetzlichkeit zu negativen Effekten fühlen würde. Die Arbeitsmarktlage z. B. hat sich zunächst nach dem Bedarf, den Produktion und Handel an Arbeitskräften haben, einzuspielen. Bleiben dann noch immer größere Gruppen von Arbeitswilligen ohne Beschäftigung, so sind diese durch arbeitsfördernde Maßnahmen der Regierung in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Dabei ist das ein Erfordernis der aktiven Konjunkturpolitik, daß diese arbeitsfördernden Maßnahmen wiederum möglichst produktiv sein sollen. Ein verstärkter Straßenbau dient beiden Zwecken, weil er zunächst brachliegende Arbeitskräfte aufzunehmen in der Lage ist und anderseits moderne Straßen und Autobahnen ein essentielles Erfordernis für die Expansion der Wirtschaft überhaupt sind. Es wäre die dankenswerte Aufgabe der Wissenschaft, dieses neue Phänomen der aktiven Konjunkturpolitik einmal von der wissenschaftlichen Seite her zu analysieren.

Das Ergebnis dieser aktiven Konjunkturpolitik, wie sie heute von allen freien demokratischen Staaten betrieben wird, enthebt uns somit auch an dieser Jahreswende mancher Sorge. Wir können mit Befriedigung und Stolz feststellen, daß die Kraft der österreichischen Wirtschaft heute größer ist, als zu allen vorhergehenden Zeiten; ein Umstand, dem auch höchste politische Bedeutung zukommt, weil damit — endlich seit 1918! — die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Oesterreichs bewiesen ist. Der große Rohstoff- reicfhtum Oesterreichs — wesentlich größer als. der der Schweiz — und eine zielstrebige Wirtschafts- und Währungspolitik waren und sind die Grundlagen dieses Beweises.

Dieser glückliche Bilanzabschluß von 1959 sowie die Sicherheit der weiteren Entwicklung in gleichem Sinn befreien natürlich nicht von der Verantwortung um die Lösung jeweils auftretender Probleme. Ein solches Problem ergibt sich gegenwärtig aus der Entwicklung der Welthandelspolitik, an der Oesterreich mit seiner exportorientierten Wirtschaft natürlich größtes Inter esse haben muß. Die Bestrebungen im europäischen und außereuropäischen Raum, die Weltwirtschaft durch möglichst weitgehende Beseitigung der noch bestehenden Handelsschranken aller Art zu fördern und ihr auch damit eine weitere Grundlage für die Expansion zu geben, werden die österreichische Wirtschaft weitgehend berühren. Hier sind zunächst die europäischen Integrationsentwicklungen zu nennen, die wir vom österreichischen Standpunkt aus unter allen Umständen lebhaft begrüßen müssen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Freihandelsgemeinschaft, als die beiden ersten Schritte zu einer Gesamtintegration des freien Europas, können als erste Entwicklungsstufen betrachtet werden. Es ergibt sich, in diesem Zusammenhang auf die große politische Bedeutung dieser Entwicklungen hinzuweisen. Es sei nur immer wieder darauf verwiesen, daß 18 oder 19 völlig autonome europäische Wirtschaften gegenüber den ständig integrierenden Wirtschaftsräumen des Westens und Ostens in Zukunft überhaupt keine Chance hätten. Es ist also, von allen anderen positiven Momenten abgesehen, das Zusammenwachsen der europäischen Wirtschaften ein Erfordernis der Selbsterhaltung.

Diese wirtschaftspolitischen Entwicklungen müssen daher auch dann gefördert werden, wenn sie zunächst in Einzelbereichen Opfer erfordern. Es muß aber auch alles vermieden werden, was der europäischen Integration entgegenwirken könnte. So muß man vor allem das Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften so weit wie möglich von politischen Relationen befreien. Politische Aspekte sind geeignet, die wirtschaftliche Integration Europas zu hemmen! Die Europäische Wirtschaftgemeinschaft der sechs westeuropäischen Staaten als ein politisches Gebilde aufzufassen, entspricht zwar bekannten Tendenzen in den Staatskanzleien von Bonn und Paris, aber eine solche Betrachtung muß die wirtschaftliche Integration des Kontinents erschweren, weil eine mit politischen Gewichten belastete europäische Integration sich niemals auf alle freien Staaten Europas erstrecken könnte. Es ist daher, vom österreichischen Standpunkt aus gesehen, absolut unerfreulich, wenn ein Teil der für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Verantwortlichen immer wieder politische Momente in den Vordergrund stellt. Wir wissen auch, daß die mit der EWG teilweise beabsichtigten politischen Aspirationen, z. B. von den Regierungen der Beneluxstaaten nur mit größtem Mißtrauen verfolgt werden.

Die Bildung der Freihandelsassoziation gibt jedoch Gewähr dafür, daß die Europäische Integration wieder wirtschaftlichen Charakter erhält. Es kann zur Stunde noch nicht abgeschätzt werden, wann es zu einer befriedigenden Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden europäischen Wirtschaftsgemeinschaften kommen wird. Daß sie dringend erforderlich ist, wurde oft genug und deutlich betont. Sicher aber ist, daß diese Regelung kommen wird, weil sie kommen muß. Sehr bald wird man auch in jenen Kanzleien der EWG, in denen man sich bisher noch immer gegen eine wirtschaftliche Assoziierung mit den übrigen OEEC-Staaten wehrt, erkennen, daß bedeutende außereuropäische Kräfte wirtschaftlicher Art die europäischen Staaten zu einem aufrichtigen Zusammengehen zwingen werden. Die in den letzten Monaten vor allem von den Vereinigten Staaten forcierte GATT-weite Liberalisierung wird sehr bald auch die „Nur-Politiker“ innerhalb der EWG überzeugen, daß die gesamteuropäische Wirtschaft, nur wenn sie in sich abgestimmt ist, der kommenden Wirtschaftskraft, insbesondere afrikanischer, süd- und ostasiatischer Räume, gewachsen sein wird.

Sicherlich kann man auch als Europäer grund-

sätzlich gegen die weltweite Beseitigung von Handelsschranken nichts einwenden. Ebenso sicher aber ist es, daß vom europäischen Standpunkt aus diesen Bestrebungen nur zugestimmt werden kann, wenn die europäische Produktionskraft im Stande ist, mit ihren Waren der Weltmarktkonkurrenz der auf niedrigstem Lohnniveau basierenden Güter aus den Ländern des Reisstandards standzuhalten. Würde man die GATT-weite Liberalisierung zu rasch verwirklichen, so wären ernste Schäden aller europäischen Volkswirtschaften zu befürchten. Wahrscheinlich ginge das so weit, daß etwa mit der Ueberflutung Europas durch billigste Waren aus den genannten Wirtschaftsräumen sehr bald die Kaufkraft Europas so geschwächt würde, daß trotz einer solchen GATT-weiten Liberalisierung mit einem höheren Absatz der Waren aus den Niedrigpreisländern nicht gerechnet werden könnte. Man wird also nur in jenem Tempo die GATT-weite Liberalisierung akzeptieren können, wobei nicht vergessen werden darf, daß sich die kleinen Staaten hier noch bedeutend schwerer tun werden als die großen.

So stehen wir an dieser Jahreswende einerseits mit dem beruhigenden Gefühl der Kontinuität wirtschaftlicher Hochkonjunktur einer Fülle von Problemen der näheren und weiteren Zukunft anderseits gegenüber. Sie zu meistern, ist die immerwährende Aufgabe der für das wirtschaftliche Geschehen Verantwortlichen, deren Bemühen es sein muß, in nüchterner Abschätzung der gebotenen Möglichkeiten jeweils jene Mittel und Methoden anzuwenden, die den bestmöglichen wirtschaftlichen Erfolg versprechen. Wenn diese nüchternen ökonomischen Entscheidungen außerdem von dem Bewußtsein einer unlösbaren Verbundenheit zur österreichischen Heimat getragen werden, dann werden diejenigen, die diese Entscheidungen zu treffen haben, auch vor der Geschichte gerechtfertigt sein.

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