Karahasan - © Foto: picturedesk.com / dpa / Frank Rumpenhorst

„Einübung ins Schweben“ von Dževad Karahasan: Die Zeit der Entblößten

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Mit „Einübung ins Schweben“ legt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan pünktlich zu seinem 70. Geburtstag einen neuen Roman vor: Ein lyrisches Panoptikum des Krieges.

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Mit „Einübung ins Schweben“ legt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan pünktlich zu seinem 70. Geburtstag einen neuen Roman vor: Ein lyrisches Panoptikum des Krieges.

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„Alles Wesentliche, was ich über das Leben weiß, habe ich durch Lesen gelernt“, sagte der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan im August 2020, als ihm in Frankfurt der Goethepreis verliehen wurde. Am 25. Jänner wird der Dramaturg, Essayist und Autor 70 Jahre alt. In seinem neu erschienenen Roman „Einübung ins Schweben“, erschienen bei Suhrkamp, steht ein beobachtender Wissenschafter im Mittelpunkt des Geschehens.

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Peter Hurd, Altphilologe und Mythenforscher, kommt im April 1992 zu einer Lesung nach Sarajevo. Schon der Titel seines Buches, „Die weiße Wölfin“, versteht sich als Vorbote für das, was in dieser Geschichte noch kommen wird. Schließlich hatte sich die Republik Bosnien und Herzegowina erst vor wenigen Wochen von Jugoslawien losgesagt. Gezeichnet von Angst und in höchster Anspannung sitzen die Gäste und lauschen der Lesung. Doch nur wenige Tage später wird Sarajevo von der Armee der bosnischen Serben, Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs eingenommen. Mit 1425 Tagen sollte es die längste Belagerung im 20. Jahrhundert werden.

Wie Wolfsrudel müssen die Menschen in Sarajevo von einem Tag auf den nächsten um ihr Überleben kämpfen, während internationale Gäste, wie der Kanadier Peter Hurd, mit Bussen aus der Stadt gebracht werden sollen. Doch als Hurd mit seinem Bewunderer, dem Übersetzer und Ich-Erzähler Rajko, am Bahnhof steht, ändert der Forscher seine Meinung: Er bleibt. Mit Rajko teilt er den Alltag, der nun von Granaten begleitet ist, lernt Freunde und Verwandte kennen. Eines Tages macht sich der Philologe allein auf den Weg und kehrt zurück, kaum wiederzuerkennen. Was ist geschehen?

Das Chaos sortieren

In seinen Werken kehrt Karahasan immer wieder in die belagerte Stadt Sarajevo zurück. Er erzählt in klaren kurzen Sätzen, als wolle er aufräumen, diese Jahre des absoluten Chaos in Büchern neu sortieren, das Unverstandene verständlich machen. Mit anderen bosnischen Schriftstellern wie Aleksandar Hemon oder Miljenko Jergović verbindet ihn die Suche nach dem Menschlichen in einem zutiefst inhumanen Ausnahmezustand. Der Krieg verändere die Menschen, schreibt Karahasan in seinem neuen Roman. Jene, die immer geschwiegen haben, hören plötzlich nicht mehr auf zu reden. Und die großen Redner entpuppten sich im Krieg als introvertierte Seelen. Die Einen würden während der Belagerung die Gesetze der Welt „wie ein Heiligtum“ bewahren und ihre Höflichkeit auf die Spitze treiben. Die Anderen sehen im täglichen Weltuntergang einer belagerten Stadt – ohne Hoffnung auf Frieden – jenen Moment gekommen, in dem sie eine noch nie dagewesene Freiheit empfinden, all das zu tun, was sie schon immer tun wollten. Nicht zufällig bezeichnet die Hauptfigur Rajko den Krieg deshalb als „die Zeit der entblößten Menschen“.

Während die Friedhöfe überquellen und Trauernde von Heckenschützen am Grabe ihrer Liebsten erschossen werden, heißt es an einer Stelle: „Der Tod wächst! Der Tod wächst!“ Der Tod wächst nicht nur, er wuchert aus allen Ecken und Enden der Stadt. Er ist sichtbar, Teil des Stadtbildes. Karahasan scheut nicht davor zurück, den Tod mit dem Attribut einer Blume zu versehen. Genau in diesen sprachlichen Kunststück zeigt sich der literarische Wert seines Romans. Karahasans Lebenswerk ist ein lyrisches Panoptikum des Krieges, von dem sich der Autor nie mehr zu lösen vermag.

Karahasan erzählt in klaren kurzen Sätzen, als wolle er aufräumen, diese Jahre des absoluten Chaos in Büchern neu sortieren, das Unverstandene verständlich machen.

Karahasan wurde 1953 in der ex-jugoslawischen Stadt Duvno (im heutigen Bosnien und Herzegowina heißt die Stadt Tomislavgrad) als Sohn muslimischer Eltern geboren. Die Themen in seinen Büchern sind nicht zuletzt von seiner Kindheit geprägt: In seinen Jugendjahren ging der neugierige Karahasan freiwillig neben seinem regulären Schulunterricht in ein Franziskanerkloster und wurde dort von einem Mönch in Philosophie, Latein und Griechisch unterrichtet. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Sarajevo. 1993 floh Karahasan aus der umkämpften Stadt. Im selben Jahr wurden seine Essays über die Zerstörung und Belagerung von Sarajevo zu einem auf der ganzen Welt gelesenen Zeugnis der Barbarei. Von der Belagerung Sarajevos handeln auch seine Romane „Schahrijârs Ring“ (1997), „Sara und Serafina“ (2000) und „Einübung ins Schweben“. Für den Essayband „Das Buch der Gärten“ wurde er 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Das Werk von Karahasan umfasst Romane, Dramen, Essays und theoretische Schriften.

Gegen das Vergessen

In Interviews spricht der Schriftsteller, der mittlerweile in Graz und Sarajevo lebt, ruhig und mit osteuropäischem Akzent: „Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt, ich bin geboren in einer Stadt, die es nicht mehr gibt.“ Es wirkt so, als wolle Karahasan nicht nur gegen das Vergessen einer blühenden Kulturhauptstadt anschreiben, sondern auch gegen das Verschwinden der Empathie. Und angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine erhält sein jüngstes Werk eine neue traurige Aktualität. Häufig geht es in seinem Werken um die Gemeinschaft, die dem Einzelnen in einer Extremsituation zur Hilfe kommt. Eine Gemeinschaft, die es im Zeitalter des Individualismus nicht mehr zu geben scheint. Nicht in Österreich und nicht in Bosnien. Und der Autor wird nicht müde, die Gier und die Korruption in seinem Heimatland anzuprangern. Bosnien funktioniere seit 1995 „als Müllhalde, man schickt Bürokraten hin, mit denen man nichts anfangen kann“. Dabei werde vergessen, dass Bosnien mitten in Europa liege und dieses sich nicht von Bosnien lossagen könne, erklärte er auf der Leipziger Buchmesse 2007.

Er selbst versuche seine Studenten in Sarajevo für „das Gute in der europäischen Tradition“ zu begeistern. Von diversen Feuilletons wurde er dafür schon als Vorzeigeeuropäer beschrieben. Dazu passt es auch, dass just zu Beginn seines neuen Romans von Wissen und Nutzen erzählt wird. Heute erwerbe der Mensch nur jenes Wissen, das ihm unmittelbar einen Nutzen bringt, sinniert der Altphilologe Hurd zu Beginn von „Einübung ins Schweben“. Diese Menschen nennt er Sklaven. Ein freier Mensch hingegen erwerbe das Wissen, um sich selbst zu gewinnen. Denn wenn die eigene Identität durch den Krieg aufgelöst wird, bleibt nur die Gewissheit der Geschichten. Es wirkt, als wolle Karahasan in seinen Romanen jene Stadt und jene Menschen einfangen, die sich nur wenige Tage später im Begriff des Verfalls befanden. Durch das Lesen wird die belagerte Stadt wieder lebendig. Karahasan bleibt zweifellos einer der wichtigsten Chronisten des elementaren Bösen und der Menschlichkeit, die erst dann zutage tritt, wenn es nur noch um eines geht: das eigene Überleben.

Einübung ins Schweben - © Foto: Suhrkamp
© Foto: Suhrkamp
Buch

Einübung ins Schweben

Roman von Dževad Karahasan
Aus dem Bosnischen von
Katharina Wolf-Grießhaber
suhrkamp 2023
304 S., geb., € 25,70

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